Es ist lange her, dass mich ein Buch so richtig mit einem in riesigen Lettern geschriebenen „WOW“ erschlagen hat. Dann schickte mir der Nord-Süd-Verlag Torben Kuhlmanns Erstling „Lindbergh“ zur Besprechung und ich war platt.

(Bezugsquellen ganz unten im Artikel)

Die fotorealistischen Zeichnungen in Sepia-Tönen katapultieren einen innert Sekunden in die Aufbruchstimmung um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert, als durch die technischen Fortschritt plötzlich alles möglich wurde. Filme wie „Es war einmal in Amerika“ kommen mir bei den Bildern in den Sinn und die heimliche Sehnsucht, dabei gewesen zu sein in der Zeit, als Ingenieure und Erfinder die Helden waren und ihre Selbstversuche von den Menschen frenetisch gefeiert wurden. Es war die Zeit der grossen Flugpioniere und der Dampfschiffe, die Zeit, als Tausende Europäer nach Amerika auswanderten, weil sie dort Hoffnung und eine neue Zukunft in Freiheit und Wohlstand sahen.

Aber nicht nur in der Fliegerei und Seefahrt wurde im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert fleissig erfunden und entwickelt. Auch für zahlreiche Probleme des Alltages wurden technische Lösungen gesucht. Im Jahr 1899 erfand beispielsweise der Engländer Henry Atkinson die Mausefalle.

Und hier, im Jahr 1899, setzt die Geschichte von „Lindbergh“ ein. Eine Maus, die ihre Tage am liebsten mit dem Lesen von Menschenbüchern in der Bibliothek verbringt, kommt aus der Bibliothek zurück und stellt fest, dass sie ganz allein ist:

„Eines Tages, als die kleine Maus von ihren Studien heimkehrte, war es merkwürdig still. Zu still. Früher wuselten hunderte Mäuse durch die alten Häuser, um Freunde zu treffen und an exotischen Dingen zu knabbern. […] Aber nun lagen überall unheimliche Apparaturen herum. Die Menschenwelt war gefährlich geworden.“

Die anderen Mäuse sind verschwunden. Die kleine Heldin von „Lindbergh“ sucht nach ihren Freunden und vermutet, dass diese nach Amerika, dem Land der grossen Freiheit ausgewandert sein müssen. Sie beschliesst, ebenfalls dorthin zu gehen. Dieses Unterfangen ist schwieriger, als gedacht, denn es lauern überall böse Feinde, die es ihr unmöglich machen, ein Schiff nach Amerika zu besteigen.

Auf dem Rückweg in ihr Versteck beobachtet die kleine Maus ihre Cousinen, die Fledermäuse. Sie beschliesst, einen Flugapparat zu bauen und damit nach Amerika zu fliegen. Doch der Weg dorthin ist weit und mit Hindernissen gespickt.

Mein Fazit

An Kuhlmanns Buch ist überhaupt nichts Niedliches, nur dunkle Farben, realistische und technische Zeichnungen, so richtig unheimliche Katzen und Eulen, denen man die Bosheit von Weitem ansieht, und endlose Hochspannung.

Schafft es die Maus, den Fallen, den Katzen und den Eulen zu entkommen? Funktioniert ihr Flugapparat? Schafft sie es zum Hafenkran, zum Kirchturm, ohne dabei von einem ihrer zahlreichen Feinde erwischt zu werden? Fliegt der Apparat überhaupt? Schafft sie es über das grosse Meer, ohne einzuschlafen oder abzustürzen? Hat sie genug Treibstoff? Was erwartet sie in New York? Sind die anderen Mäuse tatsächlich in Amerika?

Die Handlung ist sehr dicht, mit intensiver Atmosphäre gezeichnet und spannend erzählt. Handlung und Illustrationen fügen sich meisterhaft ineinander. Zugleich ist die Geschichte aber auch ausserordentlich vielschichtig: Es ist nicht nur die Geschichte einer kleinen Maus, die sich einen Flugapparat baut. Ihre verschiedenen Versuche bilden die Entwicklung der Flugzeuge im Zeitraffer ab, von den ersten Konstruktionen Otto Lilienthals bis zu den grossen Entdeckungsflügen von Lindbergh.

Hochspannung!
Hochspannung!

Daneben ist es die, soweit ich es überblicken kann, historisch korrekte Darstellung einer Epoche und ihrer Grundstimmung, die Städte Hamburg und New York und was dazwischen liegt.

Hinzu kommt eine für ein Bilderbuch seltene, aber erfrischende Darstellung von Tieren als Jäger und Gejagte, von richtig fiesen Bösewichten in Form der Eulen. Es geht nicht nur, wie so oft in Büchern für die Kleinen, um ein „banales“ Alltagsproblem, sondern um Leben und Tod:

„Riesige Klauen schnappten nach der kleinen Maus. Sie duckte sich tief in ihren Pilotensitz, kniff die Augen zusammen udn zog mit aller Kraft am Steuerknüppel. Die kleine Flugmaschine raste über die Kante hinweg und … flog!“

Aber damit ist es natürlich noch lange nicht ausgestanden, denn die Eulen sind schnell und der Weg noch weit.

Habe ich erwähnt, dass die Bilder allein für sich genommen schon grandios sind?

Und die Zielgruppe?

Wenn Eltern für ein Buch schwärmen heisst das ja noch lange nicht, dass die Kinder es auch mögen.

Kurzer (4 Jahre 4 Monate) will mal „Fuchaniker“ werden. Wir konnten bisher nicht genau herausfinden, was ein Fuchaniker genau tut, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber mechanische Konstruktionen kommen darin vor.

Das bezeichnet dann auch gerade die Art und Weise, wie er auf das Buch reagiert hat: Die ersten paar Tage hat er die Bilder angeschaut, die Zeichnungen studiert, die Konstruktionen betrachtet und wissen wollen, ob Uhren wirklich so aussehen… Ganz viele Details hat er dabei entdeckt, schon fast wie in einem Wimmelbuch, und eine gefühlte Million Fragen dazu gestellt.

Lindbergh: Uhrwerk und Flugmaschine
Zahnräder und Mechanismen: Dafür kann sich Kurzer stundenlang begeistern

Dann ging er los und fing an, Uhrwerke und Flugzeuge zu basteln. Die Geschichte hört er gerne, aber meist nicht an einem Stück, sondern über zwei oder dreimal verteilt. Er holt sich das Buch ab und an aus dem Gestell, um etwas anzuschauen oder etwas abzuzeichnen.

Der etwas über fünf Jahre alte Nachbarsjunge hingegen war mehr von der Geschichte als von den technischen Aspekten gefesselt. Er ging so richtig mit, zuckte an den richtigen Stellen zusammen, an einem Ort heulte er sogar los und an anderen konnte er vor Spannung kaum mehr stillsitzen.

Deshalb würde ich sagen, dass die Altersangabe ab 5 wohl in etwa passt. Für die Kleineren würde ich die Geschichte von der Komplexität und dem Spannungsbogen her am oberen Ende der Skala ansiedeln.

Ich könnte mir vorstellen, dass für gewisse sensible Kinder die Bilder vielleicht etwas unheimlich sind. Wobei wir unsere Kurzen ja gerne unterschätzen.

Aber sonst ist „Lindbergh“ definitiv ein Buch, das ich gerne weiter empfehle. Für technisch interessierte Mädchen und Buben sowieso, aber eigentlich für alle Kinder, die spannende Abenteuer mögen. Und vielleicht lässt sich eines von ihnen zu eigenen Abenteuern inspirieren – so wie der kleine Charles, der am Ende der Geschichte von einer mutigen, kleinen Maus erfährt und davon träumt, irgendwann selbst den Himmel zu erobern….

"Lindbergh" von Torben Kuhlmann
„Lindbergh“ von Torben Kuhlmann

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Klappentext

In Hamburg lebt eine aussergewöhnliche kleine Maus. Eines Tages bemerkt sie, dass es gefährlich geworden ist, da wo sie wohnt. Überall lauern Mausefallen und Katzen. Nach und nach verschwinden ihre Mäusefreunde. Aber wohin sind sie geflüchtet? Nach Amerika? Die kleine Maus beschliesst, den weiten Weg über den Atlantik zu wagen. Nächtelang bastelt sie an einem Flugzeug. Ein wildes Abenteuer nimmt seinen Anfang!!

Lindbergh – Die abenteuerliche Geschichte einer fliegenden Maus
Nord-Süd-Verlag, Zürich
Text und Illustrationen: Torben Kuhlmann
Gebunden
96 Seiten
Empfohlen ab 5 Jahren
ISBN 978-3-314-10210-3

Lindbergh - Die abenteuerliche Geschichte einer fliegenden Maus
Torben Kuhlmann: „Lindbergh – Die abenteuerliche Geschichte einer fliegenden Maus“

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Edit vom 26.1.2015: Unterdessen ist das zweite Buch von Kuhlmann, „Maulwurfstadt„, erschienen.

Edit vom 9.3.2015: Lindbergh hat den Troisdorfer Bilderbuchpreis der Kinderjury gewonnen.

Edit vom 12.3.2015: Lindbergh wurde für den Deutschen Jugenliteraturpreis 2015 nominiert.

Edit vom 7.1.2023: Unterdessen gibt es die eben so tollen Folgebände „Armstrong“, wo eine andere kleine Maus zum Mond fliegt, „Edison“ über eine tauchende Maus, die nebenher die Glühlampe erfindet und „Einstein“, in dem die kleine Maus zur Zeitreisenden wird.

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