Ein Geist geht um im Internet. Ein Geist namens Lena Fokina und alle sind entsetzt über das Video, in dem besagte Dame Babys (oder vielleicht doch Puppen?) durch die Gegend wirft und an Armen und Beinen über dem Kopf herumwirbelt.

Tausendfach wird das gewaltverherrlichende Video momentan von gut meinenden Menschen in den sozialen Netzwerken geteilt, die Facebookmannschaft mag gar nicht mehr nach mit Löschen und Leuten blockieren. Denn ja: Das weiter Verbreiten von Gewalt verherrlichenden Videos ist nach FB-Richtlinien nicht erlaubt (auch nicht, wenn die allerbeste Absicht dahinter steht) und dafür gibt es von den Administratoren eines auf die Finger.

So viele Menschen verspüren das Bedürfnis, ihrem Schrecken und ihrer Ablehnung von Methoden wie diesem so genannten „Baby dynamics yoga“ der grossen, weiten Welt mitzuteilen und sich davon zu distanzieren. Und indem sie es teilen, machen sie für die Methode Werbung! Denn so wird darüber gesprochen, und der hinterste und letzte Vollpflock erfährt davon. Negative Publicity ist ebenfalls Publicity, das können alle, die schon mal mit Werbung und PR zu tun gehabt haben, bestätigen.

Ich schrieb weiter oben, dass diese „Lena Fokina“ ein Geist sei. Das liegt daran, dass ich das Video nun zum dritten Mal Wellen schlage sehe. Erstmals 2011, dann wiederum 2013. Neu daran ist diese „Petition“, die zu unterschreiben man aufgerufen wird. Mit der „Petition“ soll ein Verbot der Methode erreicht werden. Im Petitionstext schreibt die Erstellerin „Casey Meng“, sie wisse halt auch nicht, an wen sie die Petition richten solle, um diese „Lena Fokina“ zu stoppen.

Wenn die Petition echt ist – was ich bezweifle, weil wie gesagt eine Petition normalerweise eine Handlungsaufforderung an Personen oder Organisationen ist – dann drückt sie vor allem eines aus: Hilflosigkeit und Unwissen. Hilflosigkeit gegenüber etwas, einer Person, einer Handlung, die als böse empfunden wird. Zehntausende empfinden eben so und „unterschreiben“ sie. Unwissen in Bezug auf demokratische Abläufe und politischen Handlungsmöglichkeiten im jeweiligen Herkunftsland.

Ja, „man muss etwas tun“. Man muss sich gegen Kindsmisshandlungen engagieren, und zwar im richtigen Leben! Denn „es“ geschieht genau jetzt in dem Haus dort drüben. Nicht nur in Russland oder Āžgypten oder diesem Neuland namens Internet.

Also was haben wir:

  • ein Video mit gewaltverherrlichenden Szenen
  • eine so genannte Petition ohne konkreten Handlungsaufruf, ohne nachprüfbaren Ersteller und ohne Empfänger
  • ganz viele empörte Menschen, die das alles hunderttausendfach weiter verbreiten und so jenste kranke Irre noch auf Ideen bringen

Wir alle wissen doch, dass Kettenbriefe böse sind und dass man sie nicht weiterleiten soll. Und wir wissen auch, dass sich Adressensammler noch ganz andere Sachen erlauben, um an verifizierte Adressen zu kommen. Aber wenn Babys im Spiel sind, scheint bei vielen, auch bei erfahrenen Internautinnen und Internauten das Denken auszusetzen.

„Aber man muss doch etwas tun! Sowas muss man doch verbieten!“

schrieben mir einige auf meine paar Dutzend Bitten, doch den Mist nicht weiter zu verbreiten, hin.

Deshalb lasst uns mal gemeinsam darüber nachdenken.

Wieso geht Ihr davon aus, dass solche Methoden bei uns nicht bereits verboten sind?

Das Video ist alt. Die Methode ist unter verschiedenen Bezeichnungen seit den 1970er Jahren bekannt. Das besagte Video muss vor 2011 gedreht worden sein. Es kann also sein, dass die Methode nicht nur hier bei uns verboten ist, sondern in jedem Land, das die UN-Kinderschutzresolution verabschiedet und umgesetzt hat. Es kann sogar sein, dass die neue ägyptische Regierung die Frau verhaftet hat oder sie in der Zwischenzeit tot umgefallen ist. Man weiss es nicht. Niemand weiss etwas Genaues. Aber es interessiert auch keinen, denn man ist empört und möchte „etwas tun“.

Auf all den zahlreichen Seiten, die das Video zur Zeit verbreiten, sind immer nur dieselben Tatsachenbehauptungen zu lesen. Nie wird eine Quelle genannt, nie echte, nachprüfbare Fakten, immer nur Hörensagen und gegenseitige Verlinkung. Mit Qualitätsjournalismus hat das nichts zu tun, im Gegenteil.

Nun, es gibt Hinweise darauf, dass die Videos echt sind, dass es also eine Person dieses Namens gibt oder gegeben hat, die solches oder ähnliches Praktiziert hat. Immerhin. Denn es könnte auch eine absolut unschuldige Person sein, deren Namen hier in den Schmutz gezogen wird. Es könnte eine Hexenjagd der modernen Art sein, initiiert mit dem Ziel, jemandes Ruf und Leben zu zerstören.

Die Genossin Fokina scheint also tatsächlich Schuldig im Sinne der Anklage zu sein. Anklage? Nicht doch. Ein Video reicht doch heutzutage, um jemanden virtuell zu lynchen. Wer braucht schon so etwas wie eine Anklage, eine Beweisführung, einen fairen Prozess oder ein Gerichtsurteil, um jemanden zu verurteilen? Wer braucht heute schon die Menschenrechte, wenn es so einfach geworden ist, mit nur einem Klick jemandes Namen auf Jahrzehnte hinaus zu verunglimpfen?

Anders gesagt: Wer solche „Informationen“ weiter leitet, ohne sie wenigstens kurz zu überprüfen, macht sich des Mobbings und Schlimmeren schuldig!

Mir persönlich macht das Angst. Ich stehe mit meinem vollen Namen hinter dem, was ich im Internet mache und schreibe. Wenn nur etwas davon jemandem in den falschen Hals gerät, kann er irgend welchen Mist über mich verbreiten, je schlimmer desto besser für ihn, desto eher werden es die Leute glauben und weiter leiten. Und jedes Mal wenn ich per Gericht dagegen angehen würde, würde ein Jahr vergehen und irgend jemand würde es wieder ausgraben und alles würde wieder von vorne beginnen.

Macht Euch das keine Angst? Motiviert Euch das nicht, umso vorsichtiger zu sein welche Informationen ihr über echte Menschen weiterverbreitet? Im Zweifelsfall doppelt nachzuprüfen, ob eine Behauptung echt und belegbar ist und wenn dies nicht möglich ist, sie nicht weiter zu verbreiten?

P.S. Bitte vergesst bei aller gerechten Empörung nicht, dass der Begriff „Baby-Yoga“ nicht geschützt ist und all die Mutter-Kind-Rückbildungskurse und Kinder-Yogakurse, die von verschiedenen Yoga-Studios in mitteleuropäischen Städten angeboten werden, absolut nichts mit dem zu tun haben, das auf diesen Videos zu sehen ist!