Auf der ersten Blick ist unser Kurzer ein eher ängstliches Kind. Wenn etwas neu für ihn ist, ist er zwar neugierig und schaut gerne zu, aber wenn man ihn drängt, auch mal zu probieren, kommt ganz schnell „das kann ich nicht!“ und die Weigerung, es überhaupt zu versuchen.

Als ich sah, dass Nicola Schmidt vom Artgerecht-Projekt ein Buch zum Thema Mut geschrieben hatte, hoffte ich auf Anregungen, wie ich unserem Kurzen zu etwas mehr Draufgängertum verhelfen könnte. Denn: „Kinder leben in der Kribbelzone“ schrieb Herbert Renz-Polster in „Wie Kinder heute wachsen“. Wo die anfängt und endet, hängt zwar vom einzelnen Kind ab, aber Kurzer zeigt so überhaupt keine Anstalten, sich überhaupt in die beschriebene Kribbelzone hinein begeben zu wollen, dass ich anfing, mir Fragen zustellen.

Kann man mutig sein, wenn man keine Āžngste kennt?

Was ist überhaupt Mut? Dieser Frage ist Nicola Schmidt nachgegangen und hat dabei mehrere Arten von Mut identifiziert und beschrieben. Da wäre zuerst mal der physische Mut – was man landläufig unter Mut versteht: Seine Angst überwinden und etwas tun, was weh tun könnte.

Dann gibt es aber auch noch den sozialen Mut, „etwas tun oder sagen, was Ablehnung hervorrufen könnte. […] die Fähigkeit, zu den eigenen Meinungen und Gefühlen zu stehen […]. Zum sozialen Mut gehört aber auch, Fehler einzugestehen, sich zu entschuldigen und sich nicht unter Druck setzen zu lassen.“ (Seite 37) Sozialer Mut ist das, was Lorenz Pauli und Kathrin Schärer in „Mutig, Mutig!“ darstellen und eine Fähigkeit, über die unsere Kinder spätestens in der Pubertät verfügen sollten. Denn „er ist die wichtigste Komponente, damit Kinder stark werden gegen Gruppendruck, Modetrends und Schönheitsdogmen“ (S. 37).

Als nächstes nennt Schmidt den intellektuellen Mut: „Intellektueller Mut entsteht, wenn wir die Kinder darin bestärken, dass sie selber denken und ihre Welt in Frage stellen dürfen, auch wenn das für uns unangenehm ist“ (S. 41).

Moralischer Mut ist etwas, das unserer Gesellschaft so oder so gut täte: „Moralischer Mut fordert von uns, unsere Komfortzone zu verlassen und für die Dinge einzustehen, an die wir glauben […]: Wenn wir unsere Versprechen halten, auch wenn es unangenehm für uns ist; wenn wir unserer Freundin sagen, dass wir uns an Lästereien über ihren Ex nicht beteiligen wollen; dem Vermieter die Stirn bieten, weil wir kein Unkrautvernichtungsmittel im Vorgarten des Mietshauses versprüht haben wollen.“ (S. 45).

Dann wäre da noch der emotionale Mut: Unbewusste Emotionen „als Gefühle ins Bewusstsein holen und ausdrücken“ und sie dadurch zur Verfügung zu haben, „um kluge Entscheidungen zu treffen oder uns unseres Zustandes ganz bewusst zu sein“ (S. 46).

Als letzte Sorte Mut nennt Schmidt den spirituellen Mut, der uns hilft, „diese Fragen [nach dem woher und wohin] zu stellen und unsere Ungewissheit auszuhalten, weil wir nie letzte Antworten finden werden. Es ist auch der Mut, anzuerkennen, dass jeder andere Antworten auf diese Fragen findet“ (S. 49).

Nachdem Nicola Schmidt den Mut-Begriff definiert hat, lässt sie erst mal Kinder zu Wort kommen, was sie unter Mut verstehen. Danach geht sie der Frage nach, was nötig ist, um Mut in all seinen Facetten entwickeln und wachsen lassen zu können. Dabei identifiziert sie Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit, freie Entfaltung und artgerechtes Spiel, die Hand in Hand zusammen den „Mut-Muskel“ entstehen und stärker werden lassen. Im letzten Kapitel geht es dann noch darum, wie man Kinder Mut machen und trainieren kann, dass auch das Scheitern und erneut versuchen dazu gehört, und – wie immer bei Beltz Nikolo – welche Rolle Bücher dabei spielen können.

Mein Fazit

Ich erwartete von dem Buch eine Hilfestellung, wie ich meinen Sohn etwas mutiger machen könnte – und fand stattdessen heraus, dass er über sehr viel Mut verfügt. Einfach nicht dort, wo ich auf den ersten Blick gesucht hätte, bei dem, was Nicola Schmidt „physischen Mut“ nennt. Er wird nie der Erste zuoberst auf dem Baum sein. Dafür hat er sehr grossen moralischen, sozialen und emotionalen Mut, steht für seine Interessen ein und gegen alles, was er als ungerecht empfindet, steigt er auf die Barrikaden. Auch gegen grössere Kinder oder Erwachsene. Er hält mit seinen Gefühlen auch dann nicht hinter dem Berg, wenn andere darüber lachen. Er achtet auf die Kleineren und Schwächeren und schlägt sich wenn nötig auf ihre Seite.

Was den physischen Mut betrifft kann ich jetzt sagen: Der Umgang mit Āžngsten, oder wie jemand sich an unbekanntes Terrain heranwagt, ist weitgehend Charaktersache. Und so grundlegend schlecht ist die Strategie, erst mal zu beobachten und nachzudenken, bevor man sich ins Unbekannte traut, auch nicht. Im Gegenteil.

Statt mir Tipps zu geben, wie ich ihn verändern kann, hat mir Nicola Schmidt mit ihrem Buch die Augen geöffnet um zu sehen, wie mutig mein Sohn ist und hat mich damit ermutigt, auf ihn stolz zu sein, so wie er ist. Und dafür möchte ich ihr von Herzen danken!

Nicola Schmidt: "Mut. Wie Kinder über sich herauswachsen"
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Nicola Schmidt: „Mut. Wie Kinder über sich herauswachsen“

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Klappentext

„Mut gibt Kindern die Kraft, Āžngste zu überwinden und eigene Wege zu gehen. Aber auch ein klares Nein, das Vermeiden von Gefahren, verlangt Mut. Um über sich hinauszuwachsen, brauchen Kinder ein Spannungsfeld aus Schutz und Selbständigkeit.“

„Mut. Wie Kinder über sich hinauswachsen“
Nicola Schmidt
Beltz & Gelberg, Weinheim und Basel, 2014
ISBN 978-3-407-72715-2

Nicola Schmidt: "Mut. Wie Kinder über sich herauswachsen"
Nicola Schmidt: „Mut. Wie Kinder über sich herauswachsen“

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