Bildquelle: hslergr1 / Pixabay

„Paradiesische Zustände in der Schweiz“
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Die spannende Serie „Finding Europa – Elternschaft anderswo“ von Mama Notes zeigt, wie Elternschaft in verschiedenen europäischen Ländern gelebt und erlebt wird. Für die Schweiz hat Séverine alias „Mama on the Rocks“ einen Beitrag geschrieben.

In ihrem Beitrag verweist Séverine auf einen Artikel im 20 Minuten, nachdem Mütter in der Schweiz „paradiesische Zustände“ vorfände:

Der Artikel bezog sich denn auch auf die Auswertung des aktuellen Berichts von Save the children, in dem 179 Länder in Bezug auf 5 Indikatoren verglichen wurden: Müttergesundheit, Sterblichkeit bei Kindern unter fünf Jahren, Schulbildung, ökonomischer Status, politischer Einfluss von Frauen. Die Schweiz rangiert auf Platz 13. Das ist gut.

Sicher, im Vergleich mit Entwicklungsländern mag das der Fall sein. Aber wieso nur verschweigt der Artikel, dass die Schweiz im europäischen Vergleich – also im Vergleich mit ähnlichen Ländern mit ähnlichen Lebensumständen – der fünf verglichenen Faktoren am hinteren Ende liegt?

Einer der Gründe ist sicher, dass es in der Schweiz weder Familienminister noch eine konzertierte Familienpolitik gibt. Familie ist Privatsache, punktschluss, wer Kinder will ist selber schuld. Über 50 Jahre dauerte es, bis wir eine Mutterschaftsversicherung hatten – eine Lohnfortzahlung während den 8 Wochen des von der IAO verordneten Arbeitsverbotes namens Mutterschutz. Das Schweizer Stimmvolk hat beim ixten Anlauf an der Urne dann schliesslich sogar für eine grosszügige Lösung von 14 Wochen gestimmt. Aber wehe, eine Mutter versucht diese Zeit zu nutzen, um sich beruflich selbständig zu machen: Bei Aufnahme einer wie auch immer gearteten lukrativen Tätigkeit während dieser Zeit ist die Lohnfortzahlung futsch. Streng genommen würde das so weit ich weiss sogar für Ebay-Verkäufe o.ä. gelten.

 

Arbeiten bis der Kopf rausschaut

Anyway, die 14 Wochen sind besser als gar nichts – das wird der Grund sein, weshalb die meisten Schweizer Stimmbürger/innen 2004 für diese Vorlage gestimmt haben. Die 14 Wochen gelten übrigens ab dem Tag der Geburt. D.h. werktätige Schweizerinnen arbeiten – ausser sie seien krank geschrieben – bis ihnen das Fruchtwasser abgeht. Ich hatte das Glück, zu viel Fruchtwasser gehabt zu haben, so dass der untersuchende Gynäkologe mich bei SSW 38 krank schrieb. So hatte ich wenigstens eine Woche Zeit, um das Kinderzimmer einzurichten und mich mental auf die Geburt vorzubereiten, von der wir ja wussten, dass sie bei 38 + 6 stattfinden würde. Natürlich war mein Arbeitgeber alles andere als bereit – woher soillte er auch wissen, dass eine Schwangerschaft nur 40 Wochen dauert? – deshalb arbeitete ich dann halt vom heimischen Sofa aus noch schnell meinen Stellvertreter per Skype und Telefon ein. Ein Hurrah auf die neue Technik!

 

Bluthochdruck in Anbetracht der Krippenkosten

Am Tag meiner Krankschreibung war immer noch nicht klar, in welcher Form ich nach dem Mutterschafts“urlaub“ weiter arbeiten würde. Auch wir Schweizerinnen haben ja die Garantie auf unsere alte Arbeitsstelle – aber leider nur exakt genau dieselbe Stelle. Das heisst für die meisten Erstmütter eine 100%-Stelle, also 42 Stunden die Woche. Da bei mir alles unklar war und sich der Arbeitgeber nicht auf einen Teilzeitvertrag festlegen wollte, liess ich meinen Wartelistenplatz nach der Fehlgeburt (siehe hier) stehen. Im Kanton Neuenburg, in dem ich lebe, war die Krippensituation vor 5 Jahren desolat – Wartelisten bis zu 2 Jahren waren keine Seltenheit und man wählte auch nicht etwa die Wunsch-Kita aus, sondern war froh, wenn man nach den 16 Wochen überhaupt irgendwo einen Platz hatte! Ich hatte Glück und eine Zusage von einer privat geführten Kita ein paar hundert Meter von meiner Arbeitsstelle weg (ich hätte also trotz Arbeit weiter Stillen können). Einziger Wermutstropfen: CHF 120.– pro Tag! Man rechne: 120 * 5 * 4 = 2400 Franken im Monat, zuzüglich Windeln und Babynahrung, die wir hätten mitgeben müssen. Das wäre der Preis gewesen für ein Baby, nicht etwa Vierlinge oder so! Geld, das Eltern aus der eigenen Tasche bezahlen und das voll versteuert werden musste. Aber wenigstens wäre mein Baby versorgt gewesen und ich hätte die Arbeit wieder aufnehmen können.

Zum Glück hat sich in den letzten 5 Jahren in diesem Bereich einiges getan und werden nicht nur die Wartelisten für die Kitas jetzt zentral geführt, sondern jetzt stehen alle Kitas unter kantonaler Kontrolle. Die Preise wurden vereinheitlicht und sind einkommensabhängig gestaltet.

 

Väter nehmem privaten Urlaub

Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, bei der Geburt. Mein Partner hatte in jenem Jahr all seine Urlaubstage zusammengespart, um 3 Wochen Vaterschaftsurlaub nehmen zu können. Als es dann bei der Geburt Komplikationen gab (siehe hier und hier) konnte er den Urlaub nicht einfach auf den Tag verschieben, an dem ich mit dem Baby aus dem Krankenhaus kam. So sass er alleine zuhause und „genoss“ seinen Urlaub, während ich mit dem Kleinen auf der Neonatologie war. Und als ich dann mit dem Baby heim konnte, musste er schon wieder arbeiten gehen und ich sass – mit Ausnahme der Nachsorgehebamme – tagsüber ganz ohne Unterstützung da und musste alleine zurecht kommen.

 

Ein Baby als Armutsrisiko Nr. 1 im reichsten Land der Welt

Mit dem kranken Baby (der Kleine hatte einen schweren gastroösophagealen Reflux mit Atemstillständen, siehe hier) konnte (und wollte!) ich meine Arbeit nach den 16 Wochen Mutterschafts“urlaub“, die mein Arbeitsvertrag vorsah, nicht wieder aufnehmen: Einerseits hatte ich nur gerade 5 Wochen mit dem Kleinen zuhause gehabt und wollte nicht schon wieder ganztags von ihm getrennt sein. Wir kannten uns ja kaum! Dann kam noch ein zweiter Punkt dazu: Die Krippe weigerte sich trotz vorheriger Zusage, ihn aufzunehmen, solange er spezielle Betreuung benötigte (Medikamentengabe + getragen werden). Zum Glück war mein Arbeitgeber einverstanden, mir weitere 6 Monate unbezahlten Urlaub zu geben. So brach unser zweites Einkommen von einem Tag auf den anderen ungeplant weg und wir mussten erst mal ans Eingemachte, bis wir die Fixkosten von „kinderlose Doppelverdiener“ auf „Einverdienerfamilie“ runtergebracht hatten.

Die Geburt des ersten Kindes ist übrigens schweizweit das grösste Armutsrisiko (Zwei-Eltern- Familien kommen gleich hinter den Einelternfamilien). Aber „natürlich“ ist das nicht etwa strukturell bedingt, sondern liegt einzig und allein an der Misswirtschaft der Eltern, die nie gelernt haben, mit weniger Geld zurecht zu kommen bzw. ihr Geld einzuteilen. (<– achtung, dieser Absatz könnte Sarkasmus enthalten).

 

Selbständikeit zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Nicht zu arbeiten und nicht zum Familieneinkommen beitragen war für mich zu keinem Zeitpunkt eine Option. Die einzige Möglichkeit war, mich wieder selbständig zu machen. Denn als ich (vermeintlich) einen Platz in der besagten Kita hatte, gab ich natürlich meine Warteplätze auf den anderen Listen frei. Die Zeit mit Baby und eigener Firma war streng, doch für mich sehr wertvoll. Wer kann schon sein Kind bei sich haben und trotzdem Geld verdienen? Als der Kurze dann mobil wurde, wurde die Sache mit der Vereinbarkeit erst richtig zur Herausforderung und ich arbeitete zu den Zeiten, wenn der Kleine schlief. Ich kann mich nicht erinnern jemals in meinem Leben so müde gewesen zu sein!

Kurz vor seinem zweiten Geburtstag wurde dann endlich ein subventionierter, d.h. von der Gemeinde zur Hälfte bezahlter Platz in unserer Wunschkita frei. Für mich war es kein Tag zu früh, denn ich war nahe einer Erschöpfungsdepression. Mit dem einen Tag in der Kita sowie der grossartigen Solidarität meiner Nachbarinnen, die mir das Baby stundenweise abnahmen, wenn ich viel zu tun hatte, konnte ich dem totalen Ausbrennen noch einmal entgehen. Aber nicht alle haben ein so tolles soziales Umfeld in unmittelbarer Nähe und ich frage mich sehr oft, wie andere Mütter / Eltern das schaffen.