Ich weiss nicht mehr, wie alt ich damals war. Sieben oder Acht vielleicht. Ich war krank, hatte eine böse Bronchitis oder Nebenhöhlengeschichte, und musste jeden Abend mit Dampf inhalieren. Das hasste ich, denn der Dampf war heiss und brannte in der Nase. Und es war  langweilig: 10 Minuten einatmen und ausatmen. Wir hatten ja damals keinen Fernseher und so gab es nicht viel zur Unterhaltung. Da holte meine Mutter ihre und Vaters alte Kinderbücher hervor und las vor. Eines der Bücher war das „Rösslein Hü“ aus dem Jahr 1938.

Die Geschichte gefiel mir damals so gut, dass ich in der zweiten oder dritten Klasse im Handarbeiten ein Bild mit dem „Rössli Hü“ stickte. Ich konnte mich sogar noch als Erwachsene an einige Kapitel erinnern. Beispielsweise die Sache mit den Kanalpferden oder wie das „Hü“ im Bergwerk fast ums Leben gekommen wäre.

gesticktes Rösslein Hü
Das Rösslein Hü, das ich in der Primarschule im Handarbeiten gestickt hatte.

Vor einiger Zeit wollte ich das „Hü“ meinem Sohn vorlesen, aber das Buch war unauffindbar. Vielleicht war es bei einem Umzug zurückgeblieben oder hat bei einem meiner Geschwister ein neues Zuhause gefunden, keine Ahnung. Im Buchhandel war es seit Jahren vergriffen. Umso grösser war natürlich meine Freude, als der Orell Füssli Verlag diesen Sommer ankündigte, dass das „Rösslein Hü“ in modernem Deutsch neu aufgelegt wird.

Die Geschichte

Eines Tages schnitzt der Spielzeugschnitzer Onkel Peter ein Pferdchen aus Holz und bemalt es mit grünen Rädern, einem roten Sattel und blauen Streifen. So schön ist das Pferdchen geworden, dass er es für einen hohen Preis verkaufen möchte. Doch die Zeiten sind schlecht und niemand kann einen ganzen Taler für ein Spielzeug hergeben. So bleibt das „Rösslein Hü“, wie er es bald nennt, bei Onkel Peter.

Weil seine Geschäfte so schlecht laufen, braucht Onkel Peter sein ganzes Gespartes auf und schliesslich kann er sich kaum mehr genug zu essen kaufen. Als er krank wird, nimmt ihn eine alte Frau auf. Das „Rösslein Hü“ zieht los, um Geld zu verdienen. Seine Reise führt es in die Gefangenschaft beim Schwarzen Michel, lässt es Kanalboote ziehen, mit einem Elefanten übers Meer fahren, in einem Bergwerk und einem Zirkus arbeiten und eine königliche Kutsche ziehen. Es läuft ein Rennen für eine Prinzessin und später verliert es wortwörtlich Kopf und Kragen und all sein schwer verdientes Geld.

Nun muss es wieder von vorne anfangen, dabei möchte es doch nur eines: Heim zu Onkel Peter, um den es sich grosse Sorgen macht. Aber bis es soweit ist, muss es noch ein Schiffsunglück überleben, einen Seeräuber retten und mit ihm einen Schatz bergen.

Mein Fazit

„Die lustigen Abenteuer des Rösslein Hü“ ist eine wunderbare, zeitlose Geschichte über Loyalität, Freundschaft, gegenseitiger Hilfe und Solidarität. Diese Werte haben bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren.

Das altmodische Setting musste ich meinem fünfjährigen Sohn teilweise erklären: Was ein Bergwerk ist und weshalb dort Pferde arbeiten, oder auch weshalb die Kanalboote keinen Motor haben. Auch das Konzept eines Hausierers, der von Ort zu Ort zieht, um seine Waren feilzubieten, haben ihn verwundert. So was kennt man heute tatsächlich kaum noch. Aber dann erinnerte er sich an den Hausierer Konrad, der in einer Pippi-Langstrumpf-Folge vorkommt (der mit Konrads Spezialkleber) und wusste wieder, wovon ich ihm da erzählte.

Er konnte so stark mitleiden mit dem armen, malträtierten Holzpferdchen. Die Autorin erspart ihren kleinen Leserinnen und Lesern ja kaum was: Erst verliert das Pferdchen seine Freiheit, dann sein Augenlicht, seine Räder, und schliesslich auch noch seinen Kopf!

Ich kann nicht genau benennen, was eine gute Geschichte ausmacht, aber wenn ich eine vor mir habe, erkenne ich sie! Jedes Mal wenn man denkt, jetzt kommt es gut, muss das arme „Hü“ einen weiteren Tiefschlag einstecken und doch kommt am Ende das lange ersehnte Happy End für alle Beteiligten. Und das geht auch ohne das heutzutage gewohnte Schonprogramm (abgerissene Köpfe, Explosionen und verschüttete Pferde findet man in modernen Kindernbüchern doch eher selten) – im Gegenteil: Die Spannung dünkt mich persönlich auf diese Weise höher, denn der Einsatz des kleinen Helden ist hoch: „Hü“ setzt sein Leben mehrfach aufs Spiel, um Geld für Onkel Peter zu verdienen und zu ihm zurückzukehren. Das führt auch dazu, dass die kleinen Leserinnen und Leser so richtig mitgerissen werden und beim Zuhören oder selber Lesen die ganze Gefühlspalette durchleben. Sie fürchten sich, eifern beim Wettrennen gegen den schwarzen Michel mit, und leiden natürlich immer wieder mit dem armen Rösslein mit. Am Ende können sie sich für ihns freuen.

Auch wenn es bald 80 Jahre als wird, ist das „Rösslein Hü“ für mich eines der tollsten Kinderbücher und ich freue mich sehr darüber, dass man es wieder kaufen und verschenken kann. Durch die sprachliche Modernisierung hat es meines Erachtens dazu gewonnen. Denn so wird es überhaupt erst fürs selber Lesen einer neuen Generation zugänglich. Ich wünsche ihm jedenfalls weitere 80 Jahre Erfolg!

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Steckbrief

„Ein so schönes Holzpferdchen hat Onkel Peter noch nie gemacht.
Der Spielzeugschnitzer freut sich, denn bestimmt wird er für sein Rösslein Hü einen Käufer finden. Doch Rösslein Hü möchte nicht in die weite Welt hinaus. Es möchte viel lieber bei Onkel Peter bleiben. Aber die Geschäfte mit dem Spielzeug laufen immer schlechter, und als Onkel Peter auch noch krank wird, da rollt Hü los, um seinem Freund zu helfen. Hü reist übers Meer, strandet auf einer Schatzinsel, arbeitet in einem Zirkus und erlebt viele Abenteuer, bis es endlich glücklich wieder nach Hause kommt.“

„Die lustigen Abenteuer des Rösslein Hü“
Ursula M. Williams
Hardcover
Orell Füssli Kinderbuch, Zürich, 2015 (modernisierte und sprachlich überarbeitete Neuauflage)
ISBN 978-3-280-03481-1

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