(Der hier kritisierte Artikel wurde nach dem Erscheinen dieses Artikels von seiner Autorin überarbeitet)

Letzte Nacht ist mir bei beim Surfen auf Facebook eine Userin begegnet, die sich darüber beklagte, dass ein Blogposting von ihr von der Leserschaft zerrissen wurde und ein Shitstörmchen hervorgerufen hat. Beim Versuch nachzuvollziehen, was da geschehen war und stiess ich auf den Artikel „Gibt es ADHS wirklich? Mein persönliches Statement zu ADHS“ – und mir stieg der Senf in die Nase. Deshalb möchte ich hier meine ganz persönliche Meinung zu diesen Artikel kundtun.

Eine Frage bleibt dabei unbeantwortet: Was bringt eine Person dazu, andere Menschen öffentlich abzuwatschen, die ihr nichts getan haben, mit denen sie nichts zu tun hat und die sie auch nicht genügend interessieren, um sich über ihre Probleme zu informieren, bevor sie darüber schreibt?

ADHS ist die Abkürzung für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Einige behaupten, diese Krankheit gäbe es gar nicht, und ADHS wurde nur erfunden, damit die Pharmaindutrie schön abkassieren kann mit dem Ritalin.

Da haut also jemand, der von einem Thema nicht betroffen ist, seine Meinung darüber raus ins weltweite Netz (und teilt dabei kräftig aus). Und zwar mit beispielloser Empathielosigkeit gegenüber den betroffenen Familien. Dabei stellt sie auch erwiesenermassen falsche Tatsachenbehauptungen auf und deklariert sie als „Meinung“:

Vor 10 oder 20 Jahren war dieses Krankheitsbild meiner Meinung nach kaum bekannt. Lehrer, Eltern und Schüler waren es gewöhnt, dass einer in der Klasse eben etwas wilder und unaufmerksamer war. Keiner machte sich gross Gedanken darüber.

Man kann natürlich sagen: „Meiner Meinung nach ist die Erde eine Scheibe“. Ist ja nur eine Meinung. Aber wird dadurch die Aussage richtiger…? Also, was war mit ADHS vor 10 Jahren, also im Jahr 2006? Die Publikation „ADHS Aktuell“ geht im Dezember 2006 auf genau diese Problematik ein:

„Die Informationsflut ist [… ] ein zunehmendes Problem. Entsprechend ist es wichtig zu wissen, welche Informationsquellen mit vernünftigem Inhalt uns zur Verfügung stehen. Eine orientierende Suchanfrage bei Google mit „ADHD“ in englischer Sprache ergibt zB anfangs Dezember 2006 ca 19.900 000 Treffer……. und führt uns so in der Regel nicht weiter.“

Nach „kaum bekannt“ tönt das nicht.

Ich selber kam übrigens mit ADHS in den späten 1970er Jahren erstmals in Kontakt, weil ein Schulkamerad von mir davon betroffen war. Damals sprach man tatsächlich noch nicht darüber, die betroffenen Familien erhielten keine Hilfe, die Kinder keine Förderung oder Therapien. Sie gingen halt auf die Sonderschule und wurden Hilfsarbeiter. Unsere Lehrerin band den zappeligen Jungen entweder auf dem Stuhl fest oder schickte ihn vor die Tür. Im Jugendalter traf ich ihn noch ab und zu im Dorf – der ehemals liebe und aufgestellte Kerl hatte keine Lehrstelle gefunden, war jetzt arbeitslos und hing an der Flasche.

Aber um die Betroffenen geht es ja nicht. Wenn es eine Krankheit nicht gibt, gibt es ja auch keine Betroffenen. Erst recht nicht in den Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, weil damals gab es ja gar kein Problem. Die Lehrer waren ja schliesslich an „etwas wildere Kinder“ gewöhnt.

Ich möchte im Folgenden versuchen, inhaltlich auf ein paar Punkte des Artikels einzugehen.

Ganz besonders „mag“ ich den Absatz über die Ursachen von ADHS (Hervorhebung durch die Autorin selber):

Angeblich soll ADHS angeboren sein. Alkohol in der Schwangerschaft kann eine Mitursache sein. Nicht verwunderlich. Ausserdem glaube ich persönlich, dass diese frühen 6-fach-Impfungen auch eine Ursache sein können. Und andere Umweltgiftstoffe im Körper der schwangeren Mutter wie Quecksilber und Aluminium. Gerade Spätgebärende haben ja schon einiges an Umweltgiftstoffen in ihrem Körper angesammelt. (Bin selbst spätgebärend.) Und zu starker, früher Medienkonsum von Kindern spielt meiner Meinung nach auch eine Rolle.

Wie gesagt: Man wird doch wohl noch seine Meinung sagen dürfen! Und betroffenen Familien gleich den schwarzen Peter zuschieben, irgend eine Ursache muss die Krankeit ja haben jemand muss ja schuld daran sein, nicht? Denn irgendwie sind ja die Eltern selber schuld, wenn ihr Kind eine eingebildete Krankhkeit hat, die es gar nicht gibt. Hätten sie halt während der Schwangerschaft weniger saufen müssen! Und jetzt stellen sie sie mit Psychopharmaka ruhig. Eingesperrt gehören solche Eltern! Aufhängen müsste man sie!

Nein, im Ernst.

Ich möchte niemandem vorschreiben, was er oder sie tun soll. Einige Kinder kommen mit Medikamenten sicherlich besser klar. Aber ich persönlich hätte Angst, meinem Kind Psychopharmaka zu geben.

Das muss man sich in Anbetracht der Komorbiditäten (Begleiterkrankungen) von ADHS, insbesondere der dreimal höheren Suizidrate auf der Zunge zergehen lassen!  Wie Empathielos muss man sein, um den Eltern von Kindern mit ADHS nicht zuzugestehen, das Beste für ihre Kinder zu wollen. Ja, ich würde meinem psychisch kranken Kind wenn nötig die entsprechenden Medikamente geben, damit es ihm besser geht, damit es anderen Therapien folgen kann, damit es eine Chance auf ein einigermassen normales Leben hat.

Ich glaube auch nicht, dass die Medikation die einzige Lösung ist.

Das glaubt überhaupt niemand. Noch nicht mal der Hersteller des kritisierten Medikamentes Ritalin. Im österreichischen Beipackzettel steht nämlich wörtlich (Hervorhebungen von mir):

Ritalin wird zur Behandlung der „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) angewendet.
– Es wird bei Jugendlichen und Kindern ab 6 Jahren eingesetzt.
– Es wird nur dann verwendet, nachdem Behandlungen ohne Arzneimittel versucht wurden, wie zum Beispiel psychologische Beratung und Verhaltenstherapie und wenn diese allein nicht wirkten.
[…]
Das Arzneimittel wird als Bestandteil eines Behandlungsprogramms verabreicht, zu dem normalerweise folgendes gehört.
– psychologische
– erzieherische und
– soziale Therapie.

Also nochmal zum Mitschreiben: Kein Mensch behauptet, dass MPH „die Lösung“ für ADHS sei (oder gar „die einzige Lösung“). MPH hilft den Betroffenen, sich wenigstens genug konzentrieren zu können, um entsprechenden Therapien folgen zu können. Aber es kann ADHS nicht heilen.

Der heutigen Gesellschaft sind wilde Kinder zu anstrengend. Kinder sollen Leistung bringen,  damit sie später schön Steuern zahlen, und der Staat etwas von ihnen hat.

Das mag sein ist garantiert so. Aber ADHS-Kinder sind nicht einfach „wilde Kinder“. Wer ein betroffenes Kind kennt (und ich empfehle der Autorin dringend, mal mit betroffenen Familien zu reden, um vielleicht von ihrer verletztenden und abwertenden Meinung über diese Familien wegzukommen) sieht den Unterschied auf den ersten Blick.

Wenn „es“ auch nach 3 Stunden auf dem Trampolin nicht aufhört, wenn „es“ trotz Fernseh- und Zuckerverbot nicht einfach weggeht, dann haben wir es nicht mit einem „wilden Kind“ zu tun.

Allen Betroffenen ist nur zu wünschen, dass sie als Erwachsene nicht mehr unter dieser „Krankheit“ leiden.

Leider kann man die Krankheit ADHS (ohne Anführungszeichen) nicht einfach wegwünschen. Sie ist nicht heilbar. Aber Menschen können lernen, mit ihr zu leben mit den durch sie verursachten Beeinträchtigungen umzugehen. Dadurch leiden sie dann tatsächlich nicht mehr darunter, sondern haben nur noch eine Krankheit wie andere Leute ein Schilddrüsenproblem oder Bluthochdruck haben. Das heisst: Wenn sie sich nicht ständig für ihre Krankheit rechtfertigen oder sich anhören müssten, sie würde sich diese nur einbilden.

Aber ist es nicht auch schön, ein bisschen „crazy“ zu sein?

Nein, psychische Erkrankungen sind nicht schön. Es ist definitiv nicht schön, wenn Neunjährige davon reden, nicht mehr leben zu wollen, weil sie mit ihrem impulsiven Verhalten überall anecken und niemand mehr mit ihnen spielen will. Es ist auch nicht schön, wenn sich Eltern von betroffenen Kindern sich von uninformierten Aussenstehenden sagen lassen müssen, sie seien selber daran schuld, würden nur den einfachsten Weg suchen, hätten das Wohl ihres Kindes nicht im Auge und würden es doch nur mit Drogen ruhig stellen wollen. Ich würde mir wünschen, dass betroffene Familien ihre Energie für ihre Kinder nutzen könnten statt sich in unfruchtbaren Endlosdiskussionen mit „der Gesellschaft“ über die Frage aufreiben zu müssen, ob sie sich ihr Leiden und ihre Probleme vielleicht nur einbilden.

Ein Bisschen Einfühlungsvermögen und Mitgefühl durch Aussenstehende wäre für die Betroffenen und ihre Familien hilfreicher als das öffentliche Abwatschen durch Leute, die „einfach nur ihre Meinung“ zu einem Thema kundtun möchten!

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