So ein Jährling hat viel zu tun, muss er doch täglich seine eigenen Grenzen austesten. Und sie lauern überall. Hier ein Schrank, den er nicht öffnen, dort eine Topfpflanze, die er nicht erreichen kann. Tausende von Grenzen, jeden Tag. Stösst er bei der Erforschung seiner Umwelt auf eine dieser Grenzen, tut er seinem Unmut auf die einzige Weise kund, die ihm im Moment noch zur Verfügung steht: Lautem Geheul und trotzigem Brüllen.

Frustration – beim Grenze finden – und Triumph – beim Überwinden derselben – sind momentan die vorherrschenden Gefühle meines Sohnes. Ab so viel Lärm gerate natürlich auch ich ab und zu an meine Grenzen oder der Kurze an die Grenzen meiner Nerven (so klar ist das nicht immer ersichtlich). Da hilft nur Kaffee machen, Fenster öffnen und tief durchatmen (und ja, ich geb’s zu: das Schwelgen in Erinnerung an die letzte Zigarette vor zwei Jahren).

Derweil – und das ist eindeutig der Nachteil der erwähnten Methode – hat die Ursache bereits die nächste Grenze erreicht oder überschritten und ich frage mich zum gefühlten fünftausendsten Mal am selben Tag, wieso ich mich für den nicht autoritären Weg der Kinderaufzucht entschieden habe… bevor ich mich gemeinsam mit meinem Sohn darüber freue, dass er jetzt seinen Kleiderschrank selber öffnen und seine Wäsche selber sortieren kann.

„Du musst ihm Grenzen setzen“, „Kinder müssen Grenzen kennen“, „man muss ihnen ihre Grenzen zeigen“, „der will nur die Grenzen testen“, höre ich die kleinen, bösartigen Zwerglein in den Köpfen meiner Mitmenschen – manchmal auch ihre Münder – sagen. Zu oft schon wurden diese und ähnliche Glaubenssätze wiederholt und sie werden – meiner bescheidenen Meinung nach – auch durch Wiederholung nicht wahr.

Die Umwelt meines Sohnes besteht doch sowieso schon aus Grenzen. Wieso sollte er da noch weitere suchen wollen? Wozu sollte ich ihm noch mehr Grenzen setzen, als er sowieso schon vorfindet?

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