Der bekannte AP-Kinderarzt Herbert Renz-Polster und Gerald Hüther in gemeinsamer Arbeit. Das konnte ich mir natürlich nicht entgehen lassen.

Wie seine Vorgänger ist „Wie Kinder heute wachsen“ süffig geschrieben und liest sich locker in einem Rutsch. Im Plauderton erzählt Renz-Polster über die Kindheit, die kindliche Entwicklung, wie Kreativität entsteht, über die Probleme, denen unsere Kinder (vielleicht) mal gegenüber stehen werden und wie wir als Eltern und Erziehungspersonen sie auf eine Weise stärken können, dass sie diesen Problemen die Stirn bieten und sie lösen können. Und Hüther kommentiert jedes Kapitel aus seiner eigenen Sicht und steuert so immer wieder interessante Nachdenkereien bei.

Kompetenzen und Rahmenbedingungen

Natur, so wie sie die beiden Autoren verstehen, ist einerseits die Sache mit den Bäumen, dem Gras und alledem – aber auch jede Art von unstrukturiertem Raum, in dem sich Kinder unbeaufsichtigt aufhalten und ihre Erfahrungen machen können.

Nach einer geborgenen Baby- und Kleinkinderzeit, in der sie sich das dafür nötige Grundvertrauen und erstes Know-How aneignen konnten, werden im Vorschulalter und der mittleren Kindheit zwei Dinge ganz elementar: Dass die Kinder selbst wirksam werden können und dass sie sich in einer Kindergruppe selbst organisieren können. Ob das im Wald oder im Keller eines leer stehenden Gebäudes inmitten der Stadt geschieht, ist dabei nebensächlich. Hauptsache autonom und unbeaufsichtigt.

Auf diesen zwei Punkten – Selbstwirksamkeit und Selbstorganisation – werden im Erwachsenenalter jene Kompetenzen basieren, die so wichtig für das weitere Leben sind: Kreativität, exekutive Kontrolle, Sozialkompetenz, Empathie und Resilienz. Diese Kompetenzen kann man ihnen nicht beibringen, die müssen sie sich selber aneignen können.

Als Erziehungsberechtigte können wir ihnen nur den dafür nötigen Rahmen bieten und der liegt paradoxerweise in der Freiheit des Kindes.

Die Sache mit den Bäumen

Die natürliche Umwelt, „das grosse Draussen“, stellt sozusagen den perfekten Entwicklungsraum für unsere Kinder dar. Hier könnten sie wirksam werden, hier könnten sie miteinandern tagelang im Wald verschwinden und erst zum Abendbrot wieder bei ihren Familien erscheinen und dabei lernen, miteinander klarzukommen, Fähigkeiten auszubauen, Geschicklichkeit zu trainieren.

Aber Bullerbü ist wohl unwiederruflich dahin. Jedenfalls für uns hier in Mitteleuropa.

Aber auch wenn die heutigen Kinder nur noch eine „bereinigte“ Natur kennen lernen, werden sie beispielsweise von den vier Elementen angezogen, wie die Motte vom Licht. Die Beschäftigung mit Erde, Feuer, Wasser und Luft scheint ein elementares Bedürfnis der kleinen Menschen zu sein, etwas, was zu begreifen, auszutesten fest in ihrem Erbgut einprogrammiert zu sein scheint.

Aber was kann die Natur, was die Schule und 24-Stunden-Betreuung nicht kann?

Wie Herbert Renz-Polster auf seiner Webseite schreibt (zitiert nach www.kinder-verstehen.de, „Meine Themen“):

„[…] Denn die wichtigste Aufgabe in der Kindheit ist der Aufbau eines tragfähigen Fundaments. Dass Kinder lernen, mit ihren Emotionen klar zu kommen. Dass sie sich in andere Menschen hineinversetzen können, dass sie eine innere Stärke und Widerstandskraft entwickeln. Das kann den Kindern nicht über didaktische Programme vermittelt werden. Dazu brauchen Kinder Freiraum. Sie brauchen das Spielen und Gestalten in unstrukturierten Umwelten. Sie brauchen die Freiheit, sich auf Augenhöhe mit anderen Kindern selbst zu organisieren.“

An den Eigenschaften der Natur – hier im Sinne von physischer Umwelt – kann ein Mensch wachsen.

Die natürliche Umwelt ist unmittelbar: Ihre Reaktion kommt sofort. Ich fasse die Flamme des Feuers an und brenne mich an der Hand. Es braucht keine Erklärungen, kein „ich zähle auf drei“, keine Vorträge und keine erfundenen Konsequenzen, weder Strafen noch Belohnungen, um dem Kind etwas beizubringen. „Gott straft sofort“ sagten wir selber als Kinder im Spass, wenn eines von uns unkonzentriert war und vom Baum fiel.

Das unbeaufsichtigte, unstrukturierte Spiel gibt dem Kind Freiheit. Die Freiheit, seine Herausforderungen selber zu wählen. Die Freiheit, Achtsam zu sein, sich einen Nachmittag lang auf eine Sache zu konzentrieren bis es sie beherrscht oder aber sich ablenken zu lassen, wenn etwas anderes seine Neugierde weckt. Die Freiheit zu Forschen und zu entdecken, oder aber die Freiheit nichts zu tun, im Geheimversteck zu liegen und Leute zu beobachten oder die Wolken zu zählen. Eine Freiheit, die wir selber nach der Schule noch kannten, die wir unseren eigenen Kindern heute aber kaum mehr gönnen, weil wir sie von der Schule zum Sport, vom Sport zur Musik und von dort ins Frühenglisch, die Logopädie und Psychomotorik schleppen. Und abends wird es früh dunkel und da wäre es doch draussen gefährlich, also lassen wir sie lieber einen Film schauen oder mit pädagogisch wertvollen Spielsachen spielen.

Die Natur, die physische Umwelt, bietet Widerstand und lernt unsere Kinder Frustrationstoleranz, Geduld und Durchhaltevermögen. Wenn es aus eigenem Antrieb auf diesen Felsen klettern will, wird ein Kind so lange üben, bis es hochkommt, sofern man ihm die dafür nötige Zeit lässt. Bei keiner von Eltern oder Lehrpersonen vorgegebenen Aufgabe kann die Motivation höher und die Beharrlichkeit grösser sein, als bei einer selbst gewählten Herausforderung.
Im freien, unstrukturierten Spiel setzen sich Kinder immer Ziele, die gerade noch knapp innerhalb ihrer Reichweite liegen, für die sie sich aber ganz schön anstrengen bzw. vor denen sie sich ein klein wenig fürchten (Renz-Polster nennt das die „Kribbelzone“). Auf diese Weise erweitern sie täglich ihre Grenzen und ihre Fähigkeiten.
Ein Computerspiel oder sonstige Spielsachen können dem Kind nicht denselben Widerstand entgegen setzen, wie die Natur selber dies tut. Auch andere Personen nicht. Wer auf einen Baum geklettert ist, muss wieder herunterkommen, es gibt keine Alternative dazu. Wer schwimmen will, wird nass. Wer einen Kilometer gelaufen ist, muss auch wieder zurück gehen. Die Möglichkeit, einfach auszuschalten wenn man nicht mehr mag besteht nicht. Und Gefahren sind echt, man hat keine drei Leben und kann nicht einfach neu starten, wenn man runter gefallen ist.

Die vierte Eigenschaft ist die Verbundenheit. Damit meint Renz-Polster einerseits die Verbundheit zwischen den Kindern einer „Bande“, das gegenseitige Vertrauen und Helfen, Geheimnisse teilen usw. Andererseits die Verbundenheit mit der physischen Umgebung: Der Garten, der Wald in der Nähe, die alte Stadtmauer oder der Park werden automatisch Teil des „Zuhause“ des Kindes, es kennt jeden Stein, jeden Busch, hat „seine“. Seine Umwelt ist ihm vertraut und es fühlt sich ihr verbunden.
Mit der Verbundenheit geht auch das Sorge tragen – den Mitmenschen, aber auch der Umwelt – einher. Die Werte, die wir versuchen unseren Kindern mitzugeben, werden für sie konkret und nachvollziehbar. Mein Sohn nahm mit drei Jahren bereits den Jaucheschaum wahr, der an manchen Sommertagen unterhalb unseres Wasserfalles das Baden verunmöglicht. Gewässerverschmutzung wird so für ihn sichtbar und riechbar, und hat direkte Auswirkungen auf sein Leben; Sie bleibt nicht etwas Abstraktes, das in der Schule behandelt oder über das ihm erzählt wird.

Und deshalb sind Computer böse?

Keiner der beiden Autoren würde so weit gehen, Computer und Bildschirme ganz zu verteufeln. Beide haben jedoch einen kritischen Blick darauf, insbesondere dort, wo Apps und Internet an die Stelle von echten, greifbaren Naturerfahrungen treben oder diese sogar verdrängen – je kleiner die Kinder, desto kritischer. Auch Bücher, so lernen wir, sind für die ganz kleinen nicht ideal, aber immerhin wird ihr Inhalt in der Beziehung zu einer älteren Person vermittelt, ein Buch liest sich nicht selber vor. Bei elektronischen Spielsachen wie Lern-APPs oder Tiptoi hingegen fällt die Beziehung weg. Deshalb kann das Kind immer nur wieder die von den Programmierern vorgegebenen intellektuellen Pfade beschreiten, jedoch keine neuen Erkenntnisse gewinnen oder Gedankenpfade entlanggehen.

Womit wir bei Gerald Hüthers Lieblingsthema angelangt werden. Er schreibt aus der Sicht des Hirnforschers und stellt die Frage: Was benötigen unsere Kinder? Benötigen sie weiterhin hergebrachtes Wissen, das sie bei Bedarf abrufen können, erlernte Lösungswege für immer wieder kehrende Standardsituationen oder werden sie, wenn sie erwachsen sind, vor allem die Fähigkeit benötigen, in einer sich immer schneller verändernden Welt kreative, neue Lösungen entwickeln zu können?

Der ketzerische Gedanke dahinter: Wir haben im Hier und Jetzt absolut keine Ahnung, welches Wissen unsere Töchter und Söhne in zehn oder zwanzig Jahren benötigen werden, weil dieses Wissen heute noch gar nicht existiert!

Und deshalb sollten wir, so die Autoren, uns nicht damit aufhalten ihnen ihre Köpfe mit akademischem Wissen aufzufüllen, das in ein paar Tagen, Wochen oder Jahren bereits veraltet sein wird – und das sie zudem jederzeit online abrufen können. Viel dringender müssen sie lernen, neu auftauchende Probleme zu erkennen und zu lösen, Dazu brauchen sie die Fähigkeiten, die sie sich nur durch das unstrukturierte, freie und ungeführte Spiel in ihrer natürlichen Umgebung aneignen können sowie das durch konkrete Erfahrung gründlich verankerte Vertrauen darin, dass sie diese Lösungen tatsächlich auch finden können.

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Meine persönliche Meinung

Ich habe das Buch gerne gelesen, da ich Herbert Renz-Polsters Schreibstil sehr mag und seine Meinung über weite Strecken sowieso teile. Da ich seine anderen Bücher kenne, kam inhaltlich für mich nicht viel Neues.

Interessant fand ich die Gedankengänge von Gerald Hüther am Ende jedes Kapitels, von dem ich bisher ausser ein paar Interviews nichts gelesen hatte. Sein Fachwissen als Hirnforscher bereichert auf jeden Fall Renz-Polsters Diskurs und ist meines Erachtens ein grosses Plus für das Buch.

Auch wenn das gesamte Buch in einem lockeren Plauderton gehalten ist, sind alle Aussagen wissenschaftlich gut fundiert. Mir sind keine leeren Behauptungen aufgefallen (wobei ich natürlich keine Spezialistin auf dem Gebiet bin). Sehr positiv hingegen sind wie immer bei Renz-Polster die Fussnoten bzw. Endnoten und Anmerkungen am Schluss sowie die zahlreichen Literaturhinweise, mit deren Hilfe sich Interessierte tiefer in gewisse Themen einlesen können.

Was ich sehr schade finde, ist dass die Autoren in den beiden letzten Kapitel („Wege in die Natur“ und „Naturerfahrungen in einer bedrohten Welt“) nicht konkreter werden. Die heutige Situation ist nun mal nicht mehr, wie wir sie als Kinder in den siebziger und achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts noch kennen gelernt haben: Es sind viel weniger Kinder draussen unterwegs, so dass die Chance auf eine altersdurchmischte, herumstreunende Kinderbande, an die unsere eigenen Kinder Anschluss finden können, relativ gering ist. Zudem müssen Eltern, wenn sie ihre Kinder „herumstreunen“ lassen im Falle eines Unfalles mit behördlichen Konsequenzen oder gar einer Strafverfolgung wegen Vernachlässigung rechnen.

Gerade unter diesen Umständen wäre ich, als Mutter, die die im restlichen Buch präsentierten Gedankengänge nachvollziehen kann und über weite Strecken teilt, froh gewesen über konkrete Möglichkeiten, wie ich mein Kind „zurück in die Natur“ bekomme und die über „Waldspielgruppe“ und „Waldkindergarten“ hinaus gehen.

Denn beide Möglichkeiten sind erstens auch nur Kompromisslösungen, weil sie strukturiert und pädagogisch geführt sind und zweitens stehen sie nur dort offen, wo ein entsprechendes Angebot besteht. Und Familien mit entsprechenden finanziellen Möglichkeiten, auch das darf nicht vergessen werden!

wie kinder heute wachsen von herbert renz-polster und gerald huether
Herbert Renz-Polster und Gerhard Hüther: „Wie Kinder heute wachsen“

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Klappentext

Herbert Renz-Polster und Gerald Hüther – der eine Kinderarzt, der andere Hirnforscher – führen in diesem faszinierenden Buch zu den Quellen, von denen eine gelungene Entwicklung unserer Kinder abhängt. Zu finden sind diese Quellen – in der Natur.
Und Natur ist dort, wo Kinder Freiheit erleben, Widerstände überwinden, einander auf Augenhöhe begegnen und dabei zu sich selbst finden. Aber ist Natur nur das »grosse Draussen«, Wiesen, Wälder und Parks, Spielstrassen und Hinterhöfe? Oder lässt sich Natur vielleicht auch drinnen finden – zum Beispiel in der grossen weiten Welt hinter den Bildschirmen?
Anschaulich und eindrucksvoll entwickeln die beiden Bestsellerautoren eine neue Balance zwischen Drinnen und Draussen, zwischen realer und virtueller Welt.

Herbert Renz-Polster, Gerald Hüther
Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Fühlen und Denken.
Ratgeber
Hardcover
Beltz Verlag Weinheim und Basel
ISBN: 978-3-407-85953-2

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Zum Weiterlesen

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