Im dritten Teil meiner Miniserie über bedürfnisorientierte Erziehung unter Beachtung des Perspönlichkeitstyps geht es um introvertierte Kinder. Wie erkennt man ein introvertiertes Kind und wie kann man es wohlwollend begleiten und trotzdem Rücksicht auf sein Bedürfnis nach Ruhe und Alleinsein zu erfüllen? 

(dieser Artikel entstand 2014 für das kasseler Online-Magazin lokalo24.de)

Introvertierte Kinder brauchen Raum und Zeit für sich

von Katharina Bleuer

Menschen sind verschieden und die meisten vereinen introvertierte und extrovertierte Eigenschaften in sich. Sie haben aber eindeutige Vorlieben und eine klare Tendenz ist ersichtlich. Ein introvertiertes Kind kann man deshalb an folgenden Eigenschaften erkennen:

  • es beobachtet andere eine Zeit lang, bevor es sich ihnen anschliesst
  • es geniesst, Dinge alleine oder mit einer oder zwei vertrauten Personen zu machen
  • es wird schlecht gelaunt, wenn es zu lange in sozialen Situationen ist
  • in Gesellschaft von Fremden ermüdet es schnell
  • es erzählt selten spontan und von sich aus von seinem Tag
  • vertrauten Personen gegenüber ist es offener, kann seine Gefühle aber auch ihnen gegenüber manchmal nur mit Mühe mitteilen und wirkt deshalb manchmal reserviert
  • es benötigt relativ grossen räumlichen Abstand zu anderen und verteidigt diesen wenn nötig auch körperlich
  • es mag keinen Körperkontakt mit unvertrauten Personen
  • es mag gerne auf sein Zimmer geschickt werden

Das wirklich grosse Thema für introvertierte Menschen ist das starke Bedürfnis nach zeitlichem und räumlichem Abstand zu anderen Menschen.

Zeit für sich

Es ist gut möglich, dass Ihr introvertiertes Kind nach einem Tag in der Kita oder in der Schule zu einem grimmigen Nörgelmonster mutiert. Dann lassen Sie es am Besten einfach eine halbe Stunde in seinem Zimmer verschwinden und sich selber wiederfinden, bevor Sie etwas von ihm verlangen. Introvertierte Menschen sind nicht unsozial, handeln in Gesellschaft aber ausserhalb ihrer Komfortzone und ermüden entsprechend schnell.

Wenn der Anpassungsdruck an die Gruppe hoch ist – was in der Schule der Fall ist – oder wenn die Gruppendynamik nicht erlaubt, dass sich das introvertierte Kind für kurze Pausen zurückzieht, stehen introvertierte Kinder unter Druck. Bei einigen äussert sich die daraus entstehende Überforderung körperlich, sie werden aggressiv.

Je nachdem, wie hoch das Stressniveau ist und wie lange sich das Kind bereits zusammen genommen hat, kann ein kleines Kind gar nicht mehr ausdrücken, dass es dringend etwas Zeit für sich benötigt. Und dann muss ihm auch noch jemand zuhören. Jedenfalls fühlt es sich durch die anderen Kinder gestört und reagiert unter Umständen entsprechend. Wenn ihr Kind zu jenen gehört, die manchmal unter Druck ausrasten, suchen Sie das Gespräch mit den Lehrpersonen. Erklären Sie ihnen, dass Ihr Kind in sozialen Situation leicht überfordert ist, schnell ermüdet und regelmässig Pausen von der Gruppe braucht.

Gleichzeitig können Sie Ihrem Kind beibringen, dass wenn es anfängt, sich von den anderen Kinder genervt zu fühlen, den Raum für ein paar Minuten verlassen soll. Kleinere Kinder mögen vielleicht nur die Gruppe verlassen und eine Weine in einer Ecke mit ihrem Schmusetier kuscheln, Āžltere wollen manchmal auf die Toilette gehen oder für ein paar Minuten frische Luft schnappen gehen. Für die Stimmung in der Gruppe ist es wichtig, dass Eltern und Erziehungspersonen diese Pausen erlauben und zulassen.

Es gibt immer mal wieder Tage mit vielen Aktivitäten. Als Eltern eines introvertierten Kindes können Sie an solchen herausfordernden Tage von Anfang an kleine Pausen einplanen. So können sie einer Gefühlseskalation vorbeugen. Manchmal ist weniger mehr!

Raum und körperliche Distanz („personal space“)

Oft sind es die introvertierten Kinder, die scheinbar grundlos auf Andere losgehen, sie beissen oder sich mit ihnen prügeln. Dies geschieht oft dann, wenn ein anderes Kind in den persönlichen Raum des introvertierten Kindes eindringt. Ein sensibles Kind kann eine Annäherung bereits als Angriff empfinden und je nachdem wie müde es bereits ist, fällt seine Reaktion recht heftig aus. Auch wenn von aussen gesehen eine solche Reaktion übertrieben scheint, vergessen Sie bitte nicht, dass sich Ihr Kind in dieser Situation seine Integrität verteidigt.

Statt es dafür auszuschimpfen, bringen Sie ihm bei, in Zukunft verbal um mehr Abstand oder etwas Ruhe zu bitten. Bitten Sie die Betreuungsperson, dafür zu sorgen, dass die anderen Kinder sein Bedürfnis nach Raum respektieren.

Zeit zum Nachdenken

Die meisten introvertierten Menschen denken eingehend über ein Thema nach, bevor sie ihre Schlussfolgerungen mitteilen. Sie benötigen dafür Raum und Zeit. Für das introvertierte Kind kann es sehr frustrierend sein, wenn andere es während des Denkprozesses unterbrechen und Antworten fordern.

Bringen Sie ihrem introvertierten Kind bei, in solchen Situation „ich muss zuerst nachdenken und werde später antworten“ zu sagen. Üben Sie sich selber in Geduld. Teilen Sie ihrem Kind ihr Interesse mit, aber bedrängen Sie es nicht, jetzt sofort darüber zu sprechen. Wenn es anfängt zu reden – was oft in einer entspannten Atmosphäre wie beim zu Bett gehen passiert – dann unterbrechen Sie es nicht.

Tätigkeiten ohne Unterbrechungen

Introvertierte Menschen kostet das Unterbrechen und wieder Aufnehmen einer Tätigkeit sehr viel Energie. Wenn Ihr Kind auf etwas konzentriert ist, unterbrechen Sie es nur, wenn es nicht anders geht.

Ständig Rücksicht nehmen geht nicht

Natürlich gibt es soziale Situationen, in denen sich Ihr introvertiertes Kind anpassen und mitmachen muss. Gerade Kindergarten- und Schulkinder benötigen nach dem Unterricht viel Zeit und Ruhe für sich, bevor sie sich erneut auf Menschen einlassen können. Gönnen Sie ihm dies! Helfen Sie ihrem Kind, seine Grenzen zu wahren und seinen „mentalen Akku“ stets geladen zu halten. Dann wird das Zusammenleben mit ihm viel harmonischer und angenehmer vonstatten gehen, als wenn es ständig über seine Grenzen hinaus gefordert und damit überfordert ist.

• Teil 1: Bedürfnisorientierte Erziehung nach Persönlichkeitstyp
• Teil 2: Extrovertierte Kinder brauchen andere Menschen