Ich bin ja echt sauer.

Gleich mehrere Personen haben mir den heutigen Artikel aus dem Zürcher Tagesanzeiger zukommen lassen: Analyse: Allein im Wald – das war einmal. Man weiss ja schliesslich spätestens seit meiner Besprechung von Renz-Polster und Hüter, dass ich irgendwie zu diesen „Zurück-zur-Natur“-Müttern gehöre und es noch gut finde, wenn die Kinder draussen spielen.

Aber der Tagi-Artikel lässt mich echt sprachlos. Statt einer differenzierten Analyse, wie der Titel vermuten lässt, wird einmal mehr die Früher-war-alles-besser-Keule geschwungen und auf die heutigen Eltern eingedrescht. Dabei geht vergessen, dass die heutigen Eltern genau jene Generation sind, scheints als letzte die grosse Freiheit hat kennen lernen dürfen. Eltern seien überängstlich heisst es in dem Artikel, und würden ihre Kinder überbehüten. Dabei sei die Welt doch viel sicherer geworden, als sie es in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts noch gewesen sei.

Da wird nur die Veränderung in der Erziehung angesprochen, nicht aber die Veränderungen in der Umwelt, dem Städtebau, der Zersiedelung, aber auch dass die Wege zwischen den verschiedenen Aktionspunkten der Kinder nicht nur gefährlicher, sondern auch weiter geworden sind. Nicht der Wald ist gefährlich, sondern der Weg dahin!

Dass dort, wo in dem viel gepriesenen „Früher“ Wiesen, Wäldchen und brachliegende Gelände lagen, die es zu erforschen galt, heute alles zubetoniert oder mit hohen Zäunen gesichert ist, ist keiner Erwähnung wert. Auch dass mit der seit 20 Jahren grassierenden Sparpolitik im Bildungsbereich die Wege in Schule und Kindergarten weiter und komplexer geworden sind – weil ein Kind nicht mehr automatisch in seinem Wohnquartier in den Kindsgi geht, sondern dort, wo es noch Platz hat oder wo das Budget es noch zulässt – und das vielleicht einen Einfluss darauf hat, ob Eltern ihre Kinder hinbringen oder selber laufen lassen, wird nicht erwähnt.

Ebenfalls nicht erwähnt werden Bürgermeister, die die Polizei kommen und Kinder aus der Schule verweisen lassen, weil diese ausserhalb der Öffnungszeiten auf dem Schulareal Fussball oder Basketball spielen. Nachbarn, die die Kinder ihrer Nachbarn verzeigen, wenn diese ausserhalb der Bürozeiten draussen Lärmen. Überall dort, wo heutzutage tatsächlich noch Kinder unbeaufsichtigt spielen kommt früher oder später die Polizei. Nicht, weil die Kinder Vandalen wären, sondern weil sie sich wie Kinder verhalten und Lärm oder auch mal Blödsinn machen. Ich weiss nicht, ob es das Wort „Aufsichtspflichtsverletzung“ in den 1970er Jahren schon gab.

In der Kritik, dass Kindergärteler heute oft nicht mehr alleine in den Kindergarten gehen, vergisst die Autorin noch einen wichtigen Punkt: Wir waren 6 Jahre alt, als wir in den Kindergarten kamen. Mit Harmos sind die Kinder gerade mal 4 geworden. Es sollte wohl jedem, der schon mal mit Kindern zu tun hatte, klar sein, welchen riesigen Unterschied diese zwei Jahre in Sachen Verantwortungsbewusstsein, Gefahrenbewusstsein und Verkehrserziehung ausmachen.

Wie viel einfacher ist es doch, mit dem Finger auf die faulen Eltern zu zeigen, die ihre Kinder lieber vor dem TV parkieren statt mit ihnen rauszugehen oder gar sie unbeaufsichtigt draussen herumstromern zu lassen!

Unser Land ist kinderfeindlich, menschenfeindlich geworden, die Freiheit wird allgemein immer weiter eingeschränkt. Das ist bedauerlich, kann aber nicht allein der Generation heutiger Eltern angelastet werden. Unser Land, unsere Gesellschaft, das sind wir alle! Dass es kaum mehr freien Lebensraum gibt, das liegt nicht an uns Eltern und dass die verschiedenen Lebensräume so weit auseinander, die Wege dazwischen so komplex geworden sind, auch nicht.

P.S. Meine Kollegin von lokalo24.de, Marie-Christin Spitznagel, hat sich eben auch darüber aufgeregt, dass Eltern ständig vorgehalten wird, dass sie, und niemand sonst, am Unglück des Planeten schuld seien: Appell mich nicht voll!

P.P.S. Im Auftrag des Marie Meierhofer Instituts für Kinder läuft seit 2011 eine gross angelegte Studie zum Thema „Lebenswelten junger Kinder im Kanton Zürich (2011-2014)“ (siehe dazu den Grundlagenbericht). Weshalb sich der Autor des Artikels statt auf diese aktuellen und für den Raum Zürich geltenden Daten und Informationen lieber auf einer etwas ältere, jedoch ohne Quelle zitierte, also nicht nachprüfbare Studie aus dem Grossraum London bezieht und behauptet, die Resultate von dort gälten auch für Zürich, ist mir schleierhaft.