Dieser Artikel gehört zum Schwerpunktthema Stress, Burnout und Depression und ist ein Gastbeitrag von Nadine P., berufstätige Mutter von zwei Kindern.

Als ich vor zehn Jahren in der Firma anfing, glaubte ich mich im Arbeitnehmerparadies. Maximale Flexibilität, leistungsorientiertes Entlohnungssystem, ein Durchschnittsalter von irgendwas-in-den-Zwanziger. Lächelnde Gesichter! Gleichberechtigung, Vereinbarkeit von Karriere und Familie, alles keine Themen. Eine Führungskultur, die fragt: „Was brauchst du, um gut arbeiten zu können?“

Ich fand eine Nische für mich, in der ich mich wohlfühlte und die ich nutzbringend für das Unternehmen ausfüllte. Ich hatte Ideen, konnte die ausprobieren. Selbstbestimmt arbeiten. Verantwortung übernehmen ohne Angst zu haben, fallen gelassen zu werden. Ich ging jeden Morgen euphorisch ins Büro!

Engagement wurde gesehen und belobt. Das kannte ich so nicht. Bei meinem vorherigen Arbeitgeber war nie meine Leistung Gesprächsthema, sondern die Kürze meiner Röcke, mein Temperament, meine Art…und es war immer überdeutlich: mein beruflicher Werdegang endet genau vor dem Stuhl meines direkten Vorgesetzten. Dass ich einen Grossteil seiner Arbeit miterledigte, war dabei eine Selbstverständlichkeit.

Und nun das. Ich betrank mich förmlich an dieser Situation. Riss mir mit Klauen Arbeit auf den Tisch, wühlte wie ein Blöde. Und war glücklich! Ich war gut. Das, was ich machte, machte ich sehr gut. Es gab Anerkennung, ich konnte in den spannendsten Projekten mitarbeiten. Es war wirklich regelrecht berauschend für mich. Und dabei auch noch nette Kollegen! Ich liebte meine Arbeit, ich lebte für meine Arbeit. Ich witzelte manchmal, am liebsten legte ich mir eine Isomatte unter den Schreibtisch und würde gar nicht mehr heimgehen.

Denn die „zweite Schicht“ am Tag war ungleich härter für mich. Ich hatte massive Erziehungsprobleme. Permanent war ich Gast in der Schule, bei Psychologen. Parallel dazu stritten wir Eltern in unsere Ohnmacht immer häufiger: „Du bist viel zu lasch!“, „Du bist viel zu streng!“. Mir entglitt die Kontrolle. Und nachts quälte ich mich durch sorgenvolle Träume um die Zukunft dieser, meiner Familie.

Morgens ging ich ins Büro und alles war „unter Kontrolle“. Ich brauchte diese Arbeit. Anders als das die meisten von ihrer sagen würden. Ich hasste Urlaub, denn das bedeutete, ich musste jemandem meine Arbeit in Vertretung übergeben. Damit verbunden war immer die Angst, dieser Jemand könnte sie dann vielleicht genauso gut machen wie ich. Oder besser. Das erfüllte mich mit regelrechter Panik! Nie schaltete ich das Diensthandy aus. Morgens drückte ich als erstes auf den On-Knopf des Laptops (wenn er denn überhaupt ausgeschaltet war nachts). Ich fürchtete einen Informationsverlust und so las ich mich bis nachts durch Artikel und eMails.

Der Abstieg begann schleichend. Etwa ein Jahr vor meinem Zusammenbruch begann ich fahrig zu werden. Gereizt. Immer häufiger stellte ich Fragen und bekam zur Antwort: „Darüber haben wir doch heute Morgen erst gesprochen!“. Ich vergass Dinge. Ständig. Konnte mir Zusammenhänge nicht merken, nicht mehr herleiten. Immer häufiger erdrückte mich der Umfang meiner Arbeit, hatte ich das Gefühl, es „nicht schaffen zu können“. Beim kleinsten Vorfall explodierte ich, schnauzte die Kollegen an. Ich machte irgendwie weiter. Die Qualität meiner Arbeit sank. Ich glaube nicht, dass nur ich das sah. Selbst semikomplexe Anforderungen brachten mich an die Grenze meiner Belastbarkeit. In Konferenzen und Telefongesprächen konnte ich nicht mehr folgen und wenn ich etwas las, dann wusste ich bereits nach zehn Zeilen nicht mehr, was ich gerade gelesen hatte. Ich zerbröselte.

Am Tag X sass ich im Büro und wollte ein Meeting vorbereiten, in welchem Umsatzprognosen von mir erwartet wurden. Ich starrte auf ein Excel-Sheet, das ich selber gebaut hatte und mit dem ich seit Monaten arbeitete. Und verstand kein einziges Wort mehr. Ich sass vor Zahlen, Zellen, Formeln und wusste nicht, was sie bedeuten. Ich begriff nicht mehr, was ich dort sah!

Ich ging in das Meeting. Und brach dort in Tränen aus, vor einer Reihe von Führungskräften. Dann fiel der Vorhang.

Ich war zu müde, um mich anzuziehen oder mir etwas zu Essen zu machen. Hunger verspürte ich überhaupt nicht mehr. Ich hatte Muskelzittern, Herzrasen, Schweissausbrüche, fror erbärmlich. Das Licht tat weh. Mein Kopf surrte. Nach aussen wirkte ich lethargisch, in mir drehte sich alles: Fragmente, Bruchstücke von Gedanken, Erinnerungsfetzen. Vollkommen zusammenhangslos. Ich konnte dieses Karussell nicht stoppen, die Gedanken nicht halten. Nicht sortieren, nicht zu Ende denken. Ich brauchte einen Psychologen. Ich war nicht in der Lage zu telefonieren… Beim wöchentlichen Termin beim Arzt weinte ich einfach nur. Irgendwann weinte ich nicht mehr und sass nur noch da. Mich strengte jeder Handgriff an. Ich fühlte mich allem entwurzelt. Meinem Leben, meinem Familie. Das nahm ich wahr, das machte aber nichts mehr. Alles war so vollkommen sinnlos. Ich vergass die Namen alltäglicher Dinge, fand meine Kaffeetasse im Kleiderschrank und meine Zahnbürste im Kühlschrank wieder. Ich war mir sicher, ich verliere den Verstand. Scham und tiefe Versagensgefühle peinigten mich. Und über allem lag ein Schleier, dunkelgrau bis tiefschwarz. Ich sah die Welt durch einen Schleier. Und alles war leiser. Schaumgebremst. Ich wartete auf das Ende. Ich erwartete das Ende. Früher dachte ich, Depressive wöllten sich das Leben nehmen. In mir war kein Wollen mehr. Ich „wollte“ gar nichts. Der Tod erschien die einzig logische Fortsetzung zu sein. Ich hatte darüber keine Kontrolle. Und das machte mir Angst. Ich hatte panische Angst! Ich traute mich nicht mehr allein auf den Balkon, die Brüstung zog mich in die Tiefe. Ich schmiss allen Nagellackentferner weg aus Angst, ich würde ihn eines Tages trinken. Und als ich einmal mit meinem Mann am Ufer des Flusses sass, der durch unsere Stadt fliesst, und ein Eis ass (wie normal das klingt), bat ich ihn flehentlich, mich wegzubringen. Ich konnte dem Drang, mich mitsamt Mantel und Stiefeln in das Wasser zu stürzen kaum Herr werden…

Als ich das nächste mal wieder mein Büro betrat, waren vierzehn Monate vergangen. Fünf Monate davon habe ich in einer psychiatrischen Klinik verbracht, einen Monat war ich zur Rehabilitation auf Kur. Zwei Jahre bin ich im Anschluss daran ambulant betreut worden.

Heute bin ich gesund. Und glücklich. Und dankbar darüber. Verschiedene Dinge sind nie wieder geworden, wie sie früher waren. Aber sehr vieles ist besser und schöner geworden. Ich mag meine Arbeit noch immer. Und auch meine Kollegen. Aber mein Job ist eben nur ein Job. Und mehr muss er auch nicht sein! Wenn ich höre, wie ein junger Mensch sagt: „Ich wünsche mir eine Arbeit, die mich erfüllt.“, dann möchte ich ihn schütteln und sagen: Und ich wünsche dir ein Leben, das dich erfüllt!

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