Im Rahmen der Einschulung unseres Kurzen muss einiges abgeklärt werden und in diesem Zusammenhang muss ich unter anderem Informationen in den alten medizinischen Akten des Kurzen zusammensuchen.

Ein paar Sätze und alles ist wieder da. Dabei habe ich seit Ewigkeiten nicht daran gedacht.

APGAR 4/7/8. Meine Fresse!

Es ist gerade eine Woche nach Kurzens Geburtstag und Facebook schwemmt mir das Bild eines hübschen Babys mit dunkeln Haaren an die Oberfläche hoch… „we proudly present…“ steht da auf Englisch, und das Geburtsdatum. 46 Likes. Das Baby auf dem Bild hat ein Schläuchlein durch die Nase, mit einem Herzpflaster ist es an der Wange angeklebt. So unglaublich viele dunkle Haare auf dem Köpfchen. Feuchte, grosse, schwarze Augen, die so ernst und tiefgründig schauen. Aufgenommen wurde es eine Woche nach Kurzens Geburt, am Tag, als er von der Neo-Intensiv auf die normale Neo verlegt wurde. Wir konnten nicht, wie meine Forenfreundinnen, die gleichzeitig mit mir schwanger waren, Fotos unseres Neugeborenen zeigen. Wer will schon ein fast unkenntliches Baby mit CPAP auf dem Gesicht, Nasensonde und Infusionszugängen sehen? Aufgedunsen und gelb, weil Niere und Leber Probleme hatten, ihre Arbeit selbständig aufzunehmen?

Die Fotos von der Geburt und den ersten Lebenstagen auf der Neo-Intensiv existieren. Wir haben sie in ein spezielles Album geklebt, unser Geburtsalbum. Nur für uns, und den Kurzen. Sie sollen nie vergessen werden, sie sind wichtig. Aber sie sind nichts, was man beim Nachmittagstee der Grosstante zeigen möchte.

Die Liste mit Symptomen und Verdächten, die die Āžrzte hatten: Fast eine A4-Seite lang ist sie. Meine Fresse! Atemnotsyndrom, Wet lung, Bradykardien, Dysmorph. Dieses Wort! Dahinter die Klammerbemerkung:  „Es bleibt jedoch festzuhalten, dass L.N. seinem Vater ausserordenlich ähnlich sieht“.  WTF?!

Die Entlassungspapiere vom 2. November wimmeln noch immer von Auffälligkeiten, die der Kinderarzt – bei dem wir uns gleich am Folgetag melden sollen – beobachten soll. Stridor, Verschlucken mit Atemnot und Untersättigung, überdurchschnittliche Müdigkeit und schlechte Gewichtszunahme… Auf den Fotos lachen mein Mann und ich. Froh, aus dem Krankenhaus heraus zu kommen, sind wir optimistisch: Wenn wir nur endlich als Familie zusammen sind, wird alles gut!

Das Pfeifen beim Atmen, das stundenlange Stillen. Ich verbrachte meine Tage mit Baby füttern. Ansetzen links, nach einer halben Stunde wechseln nach rechts, abpumpen, Fläschchen füllen, Schoppen geben…

„Alles gut“ ist anders. Mein Kind pfiff. Es weinte kaum, aber schluchzte und pfiff ohne Unterlass, wenn es nicht gerade erschöpft einschlief. Ein gut schlafendes Baby, toll, freu dich. Meine Fresse! Nein, die „Kuschelzeit“ war weder schön noch kuschelig. Nur immer dieses unbestimmte Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht stimmte und das Abwiegeln des Kinderarztes: „Manche Kinder weinen halt etwas mehr als andere, und ausserdem merkt der Kleine, dass sie sich Sorgen machen…“

Und dann kam der Tag, als das Pfeifen aufhörte.

„Am Nachmittag des 10.12.2009, etwa 1 Std. nach dem letzten Stillen, wird der Säugling in seinem Bettchen gefunden, auf dem Rücken liegend, hypoton, blass, zyanotisch um Mund und Augen, und ohne Atembewegungen […]“

Es ist der 27. Oktober 2016 als mir dieser Satz ohne Vorwarnung direkt voll in die Fresse springt und mich von den Füssen haut. Wie ein zitterndes Häufchen Elend setze ich mich mit den Papieren in der Hand auf den Fussboden. Draussen im Hof höre ich meinen gesunden Siebenjährigen „gib ab! ich steh frei! gib endlich ab!“ kreischen.
„Er lebt. Er ist gesund. Er lebt. Er ist gesund…“ rufe ich mir in Erinnerung.
Mein grosser Bub!

Am Boden sitzend lese ich die Akten, all die Dinge, die da stehen, wir wir damals gar nicht mitbekommen hatten, oder uns nicht mehr daran erinnern können. Einzelne Wörter, die alte Bilder hochkommen lassen.

„Kurze Episoden mit Brachykardien und Apnöen“ steht da. Das sah aus, als ob sich das Baby ausgeschaltet hätte: Alle Überwachungsmonitore – Herz, Atmung, Sauerstoffsättigung – runter auf Null. Sobald die Alarme losgingen, streckte er sich nach Hinten durch und atmete mit einem pfeifenden Seufzen tief ein – und die Monitore gingen wieder Normal. Baby neu gestartet.

Das war im CHUV, auf der Intensivstation, als ich das beobachtete. Einen Tag, nachdem man mir Handy und Bargeld aus der Handtasche geklaut hatte und meine Angst übermächtig war, dass Kurzer sterben könnte und mein letztes Foto von ihm weg wäre. Handy geklaut. Auf der Baby-Intensivstation einer Uniklinik. Was für ein Mensch tut so was?

Die Rückfahrt mit der Ambulanz bei schönstem Winterwunderwetter. Der Fahrer sprach über die Sparpolitik des Kantons. Ich liess ihn reden. Meinem Baby ging es besser. Mein Büblein würde durchkommen. Alles Andere war egal. Der junge Rettungssanitäter im Fond wackelte mit einem Plüschmäuschen dem Baby vor dem Gesicht herum und versuchte, es zum Lachen zu bringen. In Neuenburg angekommen fragte er mich, ob er es ihm schenken dürfe.

Ein paar Tage später begrüsste uns Kurzer mit seinem ersten Lächeln, als wir in sein Krankenzimmer traten.

Und dann endlich nach Hause, an Silvester 2009/2010, die Silvesternacht im Schlafanzug, die ganze Familie gemeinsam im grossen Bett am Kuscheln und das nachgeholte Weihnachten.