Hallo Du,

Beim Aufräumen bist du mir in die Hände gefallen. Lange habe ich nicht an dich gedacht. Du sitzt da, im Studentenheim auf der Küchenkombination, vor Dir ein Glas Rotwein und in der Hand die obligate Zigarette. Sie wird dich noch manches Jahr lang begleiten und du wirst sie erst weglegen, dann aber endgültig, als du mit Deinem Sohn schwanger bist. Bis du schwanger wirst, wird es kein einziges Bild von dir geben, in dem du nicht eine brennende Zigarette in der Hand hältst oder hinter dem Rücken versteckst. Du findest das nicht schlimm, denn du rauchst gerne, magst den Geschmack und überhaupt: Alle coolen Menschen rauchen.

Das Rauchen hält dich auch nicht vom Sport ab, obwohl du, seit du in Neuchâtel bist, nicht mehr Rad fährst. Die Autofahrer hier sind einfach vie lzu rücksichtslos und es gibt auch nicht, wie in Bern, überall Veloständer und Abstellmöglichkeiten. Du spielst jede Woche Volleyball, wenn auch nicht mehr auf dem Niveau wie vor der Uni. Deine Schulter schmerzt dich im Training dauernd. Ein halbes Jahr später hörst du dann auf zu spielen, aber mehr aus Bequemlichkeit als wegen der Schulterverletzung. Hast Du gewusst, dass die Schulter dir über 20 Jahre später immer noch Probleme bereitet und du ständig in die Physio musst deswegen? Du würdest die Rotorenmanschette gescheiter machen lassen, dann hättest du auch weiterhin mit Freude Volley und Basketball spielen können und ich müsste jetzt nicht so gegen mein Übergewicht kämpfen. Du hättest uns viel Stress ersparen können, wenn du mit dem Arzt über deine Schmerzen gesprochen hättest. Aber gell, das war halt nie dein Ding, du wolltest deine Probleme immer selber lösen.

Auf dem Bild bist du eben nach Neuenburg gezogen. Eine neue Stadt und ein neues Leben. Die Uni ist aufregend, auch wenn du noch nicht verstanden hast, wie das hier läuft. Das Zimmer im Studentenheim ist deine erste eigene Bleibe. Eigentlich wolltest du wegen dem Geld bei den Eltern wohnen bleiben, aber nach zwei Wochen ist dir die lange Bahnfahrt schon verleidet. Du willst dazu gehören, nicht nur während der Vorlesung. Du suchst Anschluss im Unisport, und das Studentenleben gefällt dir. Du willst nach der Vorlesung mit den Kommilitonen in die „Cave aux Moines“ oder ins „21“ in die Happy-Hour und nicht direkt zum Bahnhof laufen, um den Zug nach Bern zu erwischen.

Ein neues Leben. Hier kennt dich keiner von früher, niemand weiss, wie du vorher ausgesehen hast und was für ein Mensch du gewesen bist. Du kannst ganz bei Null anfangen. Du siehst gut aus, die Jungen liegen dir zu Füssen und du geniesst jede Minute davon, wenn sie dir nachschauen oder dich einladen. Das ist nicht immer so gewesen, aber jetzt kannst du auswählen!

Du gibst dich nach aussen, wie du gerne wärst. Ein neues Image, aber keine neue Person.

Auch wenn du dich als wilde Partylöwin darstellst, die für jeden Scheiss zu haben ist, bist du immer noch das schüchterne Mädchen vom Land. Wenn es dir zu bunt wird oder dir die Jungs auf die Pelle rücken erzählst du ihnen von deinem Freund. Du hast einen festen Freund, der zwar am anderen Ende der Schweiz wohnt, den du aber jedes Wochenende triffst. Er passt auf dich auf und was du noch nicht wissen kannst: Er wird auch die nächsten Jahrzehnte auf dich aufpassen! In dem Jahr, in dem ihr 25 Jahre zusammen seid, werdet ihr heiraten. Unvorstellbar, oder? Du, die so auf ihre Unabhängigkeit und Eigenständigkeit pocht, wird mit diesem Mann ein Kind haben und ihn heiraten. Mit einer Hochzeitsfeier, die genau zu euch zweien passt: Mit den Trauzeugen fein essen gehen und selbst gemachten Ringen. Kein Kitsch und kein Glitzer.

Man sieht es deinem Blick an: Du bist stolz darauf, wie du dich selber an den Haaren aus dem Sumpf gezogen hast! Deine ganze Jugend über warst du depressiv und es war ein Befreiungsschlag, dass du nach der Matura ins Ausland gingst. Du hast gemerkt, dass es so nicht weiter gehen konnte und hast innert weniger Wochen entschieden, dass du wegfahren würdest. Südfrankreich! Nach Arles hättest du dir gewünscht, oder Les Saintes-Maries de la Mer, aber Avignon war auch nicht schlecht.

Als du aus Frankreich zurückkamst, hattest du dich neu erfunden. Du trugst die Haare länger und kleidetest dich weiblicher, sexyer. Du bist innerlich gewachsen, stärker geworden, selbstbewusster. Du hast die Mutprobe bestanden, auch wenn du dort in Avignon sehr einsam gewesen bist. Du konntest dir in den Monaten dort in der Fremde selber beweisen, dass du imstande warst, auf eigenen Füssen zu stehen und aus eigener Kraft zu gehen. Dieses Wissen wird dich auch die nächsten Jahr begleiten.

Du bist hier, weil du Grosses vorhast. Soziologie studieren und Medienwissenschaften, Kriegsreporterin werden, zum Roten Kreuz oder beides, auf jeden Fall die Welt verändern und zum Weltfrieden beitragen. Grosse Pläne und wenn jemand es schaffen kann, dann du.

Aber du wirst an einem Gegner scheitern, mit dem du nicht rechnest: Dir selber. Du überschätzt dich mit der Einstellung, dass du alles alleine schaffen kannst und von niemandem Hilfe anzunehmen brauchst. Nur ein Jahr, nachdem das Bild geschossen wurde, wird der schwarze Hund zurück in dein Leben kommen, diesmal mit seiner dunklen Schwester, der Angst, im Schlepptau. Du wirst dich mehrere Jahre lang in deiner Wohnung vor dir selber verstecken und nicht wissen, wie du da aus eigener Kraft wieder rauskommst. Und doch wirst du es wieder schaffen, zum zweiten Mal. Aber die Jahre sind verschwendet, Jahre, die die besten deines Lebens hätten sein können. Hätten sein sollen! Du wirst dabei fast den wichtigsten Menschen in deinem Leben verlieren, der irgendwann nicht mehr mit ansehen mag, wie du dich selbst und eure Beziehung zerstörst und auch ihn mit runter ziehst. Aber gemeinsam mit ihm wirst du es schaffen, grad noch so.

Deshalb mein Rat an dich, mein liebes 20jähriges Ich: Wenn es dir wieder schlecht geht, such dir einen guten Psychiater. Lass dir Medikamente geben. Psychiater sind nicht der Feind, sondern spielen in deinem Team. Keiner verliert das Gesicht, wenn er bei Bedarf zum Arzt geht, auch du nicht. Auch mit Medikamenten liegt noch genug Arbeit vor dir, um wieder Freude empfinden und Liebe fühlen zu können. Aber man muss da nicht alleine durch.

Ich weiss, dass du jetzt mit 20 zu stolz bist, dir helfen zu lassen und lange Zeit sehr unglücklich sein wirst. Vergiss einfach nicht, nie, keine Sekunde lang, wie sehr Du geliebt wirst!

Dieses Wissen hat mir beim dritten Mal, als der schwarze Hund zurückkam, geholfen, das Richtige zu tun und zu einer Āžrztin zu gehen.

Liebes 20jähriges Ich, Du bist mit einem gescheiten Kopf und einer robusten Gesundheit gesegnet und du wirst von so vielen Menschen geliebt. Mach was draus!

In Liebe,

Dein 45jähriges Ich

P.S. Du hast hammer Beine, um die ich dich 25 Jahre später immer noch beneide, auch wenn du meinst, sie seien schwabbelig.