Im Frühling vor einem Jahr ist unser aller Sicherheitsgefühl erschüttert worden. Vorher waren wir sicher, dass es hier in Mitteleuropa so etwas wie eine Seuche nicht mehr geben konnte. Allein der Gedanke war absurd, schliesslich beherrschen wir hier fast alles und wenn nicht, dann hat sicher irgendwo ein Individuum einen Fehler gemacht.

Aber so war das eben nicht. Schlimme Dinge sind einfach passiert, unabhängig davon, was ich oder du oder jemand anderes getan hat… In China hat ein Schmetterling mit den Flügeln geschlagen und hier bei uns einen Orkan ausgelöst.

Das Bedürfnis nach Sicherheit (Schutz, Geborgenheit) kommt in der Bedürfnispyramide von Maslow direkt nach den körperlichen Bedürfnissen (Essen, Schlaf, Wärme) und in der Menschheitsentwicklung werden sie gleich gewichtet wie diese. Physiologische Bedürfnisse und Sicherheit – die drei anderen Bedürfnisgruppen bauen auf diesen Beiden auf und können überhaupt erst in Angriff genommen werden, wenn sie erfüllt sind. Niemand denkt an Selbstverwirklichung, solange er nicht genug zu Essen hat oder in Sicherheit ist…

Wir hier in Mitteleuropa können so viele Dinge kontrollieren, von denen unsere Vorfahren nur träumten: Wir vermessen die Natur so präzise, dass wir wissen, wann eine Katastrophe ansteht und meistens wissen wir sie zu verhindern. Wenn sie uns trotzdem überrascht, sorgt der Staat dafür, dass uns beim Aufräumen und Wiederaufbau geholfen wird – und eine unserer zahlreichen Versicherungen übernimmt die Kosten! Deshalb sind Naturkatastrophen hierzulande zwar extrem schmerzhaft, aber zum Glück in den meisten Fällen nicht existenziell bedrohend.


Das Sicherheitsgefühl hängt auch mit Vertrauen zusammen: Dem Vertrauen darauf, dass alles vorbei geht, dass die Versicherung bezahlt, dass die Āžrzte und ihre Technik uns helfen können.

Ich lernte schon recht früh, dass ich mich auf Menschen nicht unbedingt verlassen konnte, nur auf mich selber. Um dieses Wissen herum baute ich mein Selbstbild von einer Person, die nur sich selbst braucht und niemanden sonst, und dieses Wissen gab mir Sicherheit. Auf mich selbst konnte ich mich verlassen.

Dieses Wissen wurde stark erschüttert, als ich während meiner ersten Schwangerschaft in der 16. Schwangerschaftswoche erfuhr, dass unser «Böhnchen» nicht mehr lebte. Da geschah etwas, das ich nicht kontrollieren konnte, das geschah einfach ohne mein Zutun. Noch stärker litt mein Sicherheitsgefühl, als bei der Geburt meines Sohnes ziemlich viel schief lief – ich war bis in mein Innerstes erschüttert.

Aber am Schlimmsten war der Tag, an dem er zu atmen aufhörte. Jener Moment hat alles verändert, ganz tief in mir drin ging etwas kaputt und ich brauchte jahrelange Therapie, bis ich das Vertrauen ins Leben wieder fand.

An manchen Tagen bin ich überzeugt, dass ich alles überstehen kann. An anderen fehlt mit dieses Vertrauen und fühle mich fragil, unsicher, verletzlich.


Mich dünkt, dass mit der Pandemie das Sicherheitsbedürfnis der Schweizerinnen und Schweizer angestiegen ist. Weil da dieses Unberechenbare und über weite Strecken Unkontrollierbare vorgeht, halten sie an dem fest, das sie kennen und versuchen, weitere Veränderungen politisch abzuwehren. Als könnte man die Veränderungen unseres Planeten aufhalten, indem man den Kopf in den Sand steckt und behaupten, dass sie nicht stattfinden.

Aber das wird nicht funktionieren!

Echte Sicherheit kann nur in uns selber entstehen. Nicht im Verhindern von Veränderungen, sondern im Vertrauen darauf, dass wir mit jeder Veränderung umgehen können, die auf uns zukommt. Dass es immer irgendwie weiter gehen wird.

Ich für meinen Teil finde diese Sicherheit in der Natur und im Jahreskreis: Es wird Frühling, dann Sommer, dann Herbst und dann Winter. Die Tage werden länger – und dann wieder kürzer, und wenn die Tage am kürzesten sind, können wir darauf vertrauen, dass sie bald wieder länger werden.

Auch in diesem verstörenden, komischen Jahr ist in ein paar Tagen Sommersonnenwende, dann können wir bald die ersten Gemüse im Garten ernten, bis Ende September die Nächte wieder länger sind als die Tage, im November die Dunkelheit sich über alles legt, bis man im Dezember denkt, sie ist kaum mehr auszuhalten – aber kaum ist Weihnachten durch, spürt man schon wieder eine Veränderung im Tageslicht und am Anfang Februar werden die Tage wieder merklich länger. Es geht weiter: Jedes Jahr gleich, und doch jedes Jahr anders!

Mir gibt dieses Wissen Sicherheit. Und Euch? Woran könnt ihr euch festhalten, wenn wieder alles anders wird?