In jedem Leben gibt es Gegenstände, die sich praktisch mit Magie aufladen. Sogar wenn man nicht mehr an sie gedacht hat, reicht es aus, sie in die Hand zu nehmen, und man wird gleich von unendlich vielen Erinnerungen und Emotionen überschwemmt, die daran hängen.

Wir hatten dieses Jahr wirklich Pech mit dem Regenwetter. Der Erdboden in unserem Keller sog sich mit Feuchtigkeit so voll, dass diese durch die Holzbohlen hindurch in den Kleiderschrank eindrang. Als der Mann letzten Samstag den Schrank öffnete, waren alle darin enthaltenen Kleidungsstücke mit Schimmel überzogen.

Eines dieser Kleidungsstücke war meine schwarze Lederjacke. Was hat sie nicht alles miterlebt! Liebeskummer, Sex, Belästigung, Liebe, Trauer, und ganz viel Abenteuerlust.

Zu viel, um sie wegzuwerfen ohne wenigstens zu versuchen, sie zu retten! Im Ledergeschäft in der Stadt besorgte ich mir Produkte, um sie zu reinigen.

Gestern stand ich dann so im Badezimmer und shampoonierte sie langsam und gründlich von Hand mit einem Spezialmittel ein, und gewisse Szenen meines Lebens spulten wie ein Film vor meinem inneren Auge ab.

Jahrelang wünschte ich mir so eine Jacke, aber für jemanden wie mich war sie natürlich unerschwinglich. Einmal lieh ich mir ein paar Wochen lang eine von einer Kollegin, im Gegenzug dazu nähte ich ihr das Innenfutter neu. Am liebsten hätte ich sie behalten. Aber erst, als ich nach der Matur für ein halbes Jahr nach Frankreich zog und dort als Au-Pair-Mädchen etwas Geld verdiente aber kaum welches brauchte, konnte ich mir schliesslich meine „Protector“ kaufen: die typische schwarze Bikerjacke, wie unter anderem „Johnny“ in Dirty Dancing eine trug. Also jeder, der zählte.

Die Jacke und ich waren unzertrennlich. Wenn ich sie trug, konnte mir nichts passieren. Ich war unbesiegbar. Ich trug sie abens im Ausgang, an Konzerte, in der Reithalle, und ich trug sie natürlich auch an dem Abend, als ich meinen Mann kennenlernte. Ich trug sie an Festivals und vor Vorstellungsgesprächen.

Die Jacke machte mich stärker.

Ich weiss, das tönt blöd. Aber ich bin eigentlich eine schüchterne, unsichere Person – wenn ich meine Lederjacke trug, war ich selbstbewusster. Ich trug sie, als ich mich von meinen Exfreund trennte. Er stand wütend vor mir, brüllte und überhäufte mich mit Vorwürfen – und ich stand einfach da, mitten im Winter, in dieser Lederjacke, die mich umhüllte, und dachte: „du kannst mir nichts tun, ich bin stärker als du“.

Wenn ich die Lederjacke trug, war ich nicht die Person, die ich war, sondern die Person, die ich sein wollte!

An dem Abend, an dem ich den Mann kennenlernte, den ich 25 Jahre später heiraten sollte, trug ich die Lederjacke auch und das war mein Glück. Denn mit ihr war ich klug, wortgewandt, witzig und schlagfertig – alles Eigenschaften, die auszuleben mein lederjackenloses „ich“ sich damals nicht getraut hätte. Und natürlich umwerfend attraktiv, aber das erkannte ich auch erst Jahrzehnte später auf Fotos aus jener Zeit.

Ich fand diesen jungen Mann mit dem breiten Lächeln und den blitzenden Augen unglaublich attraktiv. Voll meine Zielgruppe, aber für jemanden wie mich Lichtjahre out of reach. Niemals hätte ich mich getraut, ihn anzusprechen. Das galt nicht für die Frau mit der Lederjacke! Die sprach aus, was sie dachte, und holte sich, was sie wollte. Und offenbar beeindruckte sie den Mann mit dem umwerfenden Lächeln genügend, damit er sie wiedersehen wollte. Der Rest ist Geschichte.

Die Jacke machte mich unbesiegbar.

Einmal fuhr ich im Zug von Neuchâtel nach Bern. ich glaube, es war an Weihnachten und ich wollte meine Grosseltern besuchen. Ich hatte raspelkurze, violette Haare, trug die Lederjacke und Sanchos an den Füssen.

Es war führ am Morgen, der Zug war fast menschenleer. Leider nur fast. In dem Raucherwagen, in den ich einstieg, sass eine Gruppe junger Männer, die wohl die Nacht durchgemacht hatten und jetzt auf dem Nachhauseweg waren. Vier übernächtigte, besoffene Männer, eine junge Frau und weit und breit kein anderer Mensch – jede Frau weiss, dass eine solche Situation lebensgfährlich sein kann.

„Meine Mutter bringt mich um, wenn ich ihr das erzähle“ war mein erster Gedanke und „Weg hier, ganz nach vorne zum Lokführer“ mein Zweiter.

Meine Lederjacke hielt mich zusammen. Ich stand da, in aufrechter Haltung und nach aussen hin entspannt, während zwei von denen sich vor mir aufbauten und mir den Weg versperrten. Ich sagte in normalem Ton „lasst mich durch“ und schaute sie mit erhobenem Kopf an. Die Beiden traten zur Seite und ich marschierte zwischen ihnen hindurch. Als ich den Wagen verliess und die Tür hinter mir schloss, riefen sie mir „Scheisslesbe, komm her, ich fick dich“ und ähnliche Nettigkeiten hinterher, aber das war mir dann auch egal. Haupsache, ich war da gesund und in einem Stück rausgekommen…


Ja, das gute Stück hat einige Abenteuer mit mir geteilt. Aber seit 13 Jahren hängt sie im Schrank im Keller, weil ich sie nicht mehr zubringe seit ich ach der Geburt des Kurzen so zugenommen habe. Aber gestern, beim Einseifen, habe ich sie liebevoll gestreichelt und mir ist bewusst geworden, dass mir all die Gefühle, die an ihr hängen, niemand mehr wegnehmen und ich sie mir jederzeit ins Bewusstsein rufen kann.

Das ist echte Magie!