Kennt Ihr die biblische Geschichte aus 1. Mose 41? Der Pharao hat einen Traum von sieben fetten Kühen, dann sieben mageren Kühen, die sie auffressen, danach noch einen anderen Traum von sieben fetten Āžhren und sieben dürren Āžhren, die sie verschlingen. Weil der den Traum nicht versteht, lässt er Josph kommen, der ihm erklärt, dass nach sieben fetten Jahren sieben magere Jahre kommen werden und er besser daran tun würde, Vorratsspeicher anzulegen, damit sein Volk nicht verhungere.

Zyklen

Mir scheint, hier in Mitteleuropa seien die sieben (oder siebzig?) fetten Jahren fürs erste auch vorbei… Nachdem es einem grossen Teil der Menschen lange gut gegangen ist – nicht allen natürlich, aber vielen – scheint sich das Rad gedreht zu haben und die Fahrt nun nach unten zu gehen.

Seit sich der Mensch auf die Hinterfüsse gestellt hat, misst er die Zeit in Zyklen: von Sonnenuntergang zu Sonnenuntergang, von Neumond zu Neumond, von Menstruation zu Menstruation, von Winteranfang bis zum nächsten Winteranfang. Das sind die offensichtlichen Zyklen. Dann gibt es die weniger offensichtlichen, denen Zivilisationen ebenso unterworfen sind wie Dorfgemeinschaften oder Individuen.

Nun, unsere Zivilisation befindet sich offensichtlich auf dem Weg nach unten: Kriege, Katastrophen, Streit und Zerrissenheit, die westlichen Demokratien – das am wenigsten schlechte politische System, das wir kennen – alles steht im Moment zur Debatte. Wobei «Debatte» der falsche Begriff ist, denn Debatten finden kaum mehr statt. Stattdessen bewerfen sich verschiedene Gruppierungen mit Vorwürfen oder verorten Andersdenkende gleich bei den «Bösen», so dass man gar nicht mehr mit ihnen reden muss. Daniel Binswanger hat das die aktuellen, besorgniserregenden Entwicklungen für Die Republik zusammengefasst: Ohne Diskurs keine Demokratie.

Anyway, trotz der negativen Stimmung, die ich zurzeit überall wahrnehme, empfinde ich selbst eine positive, zuversichtliche Grundstimmung: Das Rad wird sich nicht zu drehen aufhören, wenn jetzt Herbst und Winter kommen – auch gesellschaftlich gesehen – wird es nach dem Tiefpunkt wieder nach oben gehen, irgendwann kommt der Frühling und ein neuer Sommer.

Attitüden

Der Schulbeginn des Kurzen in der Oberstufe gestaltet sich wie erwartet etwas holperig: Alles ist neu und es wird viel Autonomie von den Schülerinnen und Schülern verlangt, mehr, als der Kurze zum jetzigen Zeitpunkt zu leisten imstande ist.

Wir waren jedoch sehr positiv überrascht über die Hilfe, die die Schule unserem Kind zur Verfügung stellt. Dazu gehören unter anderem ein 1:1-Lerncoaching alle zwei Wochen bis Weihnachten, wo dem Kurzen geholfen wird, wie er sein Lernen eigenverantwortlich organisieren kann, sowie kostenloser Nachhilfeunterricht durch Lehrerinnen und Lehrer jeweils über Mittag oder nachmittags nach dem Unterricht, wo der Kurze je nach Bedarf mit seinen Übungsblättern oder Fragen hingehen und sich die Themen nochmal erklären lassen kann.

Das mit dem Lerncoaching hat uns am meisten überrascht, denn gerade in diesem Punkt hat unser Kind einen grossen Nachholbedarf und wir hatten uns schon Gedanken gemacht, wie wir ihm dabei helfen könnten. Ich bin auch nicht gerade ein Ausbund an Selbstorganisation… Der einzige diesbezügliche Wehrmutstropfen ist für mich, dass diese Option offenbar nicht allen Kindern mit Schwierigkeiten angeboten wird, sondern nur jeweils ein paar pro Klasse, und die Lehrperson wählt aus allen mit Bedarf diejenigen „mit der richtigen Einstellung“. Nach ein wenig herumfragen ist mir schnell klargeworden, dass die richtige Einstellung „rein zufällig“ mit engagierten Eltern, aber auch dem richtigen Wohnquartier bzw. dem richtigen Nachnamen und der richtigen Muttersprache korreliert. Ein Schelm, wer Böses denkt!

Meine Privilegien checken!

Was sollen wir nun mit diesem Wissen anfangen? Wir sind privilegiert. Ja. Als Schweizerin in der Schweiz, als Akademikerin, als Partnerin eines Mannes, dessen Lohn gerade so ausreicht, um uns drei allein durchzubringen, wenn es sein muss, habe ich gewisse Vorteile, bzw. Ressourcen, die andere nicht haben. Wenn ich Ressourcen schreibe, meine ich nicht Geld, sondern immaterielle Güter: das Wissen, welche Unterstützung mein Kind zugute hat und das Wissen, wo ich diese einfordern kann. Die Fähigkeit, die betreffenden Formulare korrekt auszufüllen und ggf. schriftlichen Rekurs einzulegen. Die Zeit, zu recherchieren, wenn mir eine Information fehlt, die Zeit, herumzutelefonieren, die richtigen Leute zu finden und sie zu treffen.

Was sollen wir tun? Aus Protest auf die angebotene Hilfe verzichten? Das ist auch keine Lösung. Was ich konkret tue, ist, mein Wissen, mein Know-how und meine Zeit mit anderen Eltern zu teilen und ihnen zu helfen, ebenfalls an Hilfe für ihre Kinder heranzukommen. Ich bin nicht einverstanden, soziale Ungleichheiten an die nächste Generation weiterzugeben – und gerade in Familien mit ADHS treten gewisse Probleme gehäuft auch generationenübergreifend auf.

Also Vernetzen, in Vereine und Verbände eintreten, wenn möglich politisch aktiv werden, in der Schulkommission, in einer Partei, oder auch hier über diverse Verbände Einfluss nehmen. Das ist es, was ich tun kann, wovon ich in der Vergangenheit schon einiges getan habe und in Zukunft auch wieder tun werde. Das ist in meinen Augen ein zielführender, gesunder Aktivismus, der zu konkreten Resultaten führt.

Egoistisch motivierter Aktivismus

In den letzten Wochen und Monaten ist mir eine andere Art von Aktivismus aufgefallen, der mehr und mehr Überhand zu nehmen droht – und er gefällt mir nicht!

Die Aktivistinnen und Aktivisten scheinen völlig das Ziel aus den Augen verloren zu haben und nur noch sich selbst profilieren zu wollen, der Welt zeigen zu wollen, was für grossartige und engagierte Menschen sie sind. Ich muss zugeben: Mich stört das.

So zum Beispiel die Leute, die wegen Frisuren dafür sorgen, dass Konzerte abgesagt werden. Oder der Transaktivist, der sich vor laufenden Kameras mit Urin übergossen hat.

Politisches Engagement als egoistische Performance. Um der Welt zu beweisen, was für ein toller Hecht man ist. Aber es geht dabei nicht mehr um die Sache: Nämlich für eine gerechtere, diskriminierungsfreie Gesellschaft. Es geht nur noch darum, sich selbst zu profilieren und sein Gesicht in möglichst vielen Medien zu sehen.

Das Schlimme bei dieser Art Aktivismus ist, dass dabei die Sache auf der Strecke bleibt und dass, anstatt dass man in der Mehrheitsgesellschaft Verständnis für seine Anliegen wirbt, in dieser nur Kopfschütteln und Ablehnung hervorruft. Was wiederum allen Angehörigen der Communities schadet, für die man angeblich kämpft.

Auch im Netz trifft man auf den egoistischen Aktionismus – man erkennt ihn insbesondere daran, dass seine Akteurinnen und Akteure jeden Diskussionsbeitrag als „faschistisch“ und „rechts“ labeln, der nicht ihren Ansichten entspricht bzw. die erwünschten Dogmen und Glaubensbekenntnisse nicht wiederholt.

Ursprünglich klar definierte Begriffe wie „faschistisch“, „rechts-“ oder „linksextrem“ werden dadurch völlig inflationär auf Menschen angewandt, die anderer Meinung sind, andere Interessen vertreten oder einfach nur zu anderen Schlussfolgerungen kommen als man selbst. Teilweise nimmt das völlig absurde Ausmasse an!

Ich bewundere Menschen, die sich aktiv für eine bessere Zukunft oder eine gerechtere Gesellschaft einsetzen. Aber was mir in den letzten Monaten auf Twitter begegnet ist, dient nur der eigenen Profilierung und der Stärkung des „Wir“-Gefühls bestimmter Gruppierungen (aka „die Guten“), die sich dadurch von den Anere (aka „die Bösen“) abheben können.

Was für eine Verschwendung!

Manche dieser neuen sozialen Bewegungen im Internet erinnern mich an religiöse Bewegungen, wo die einen versuchen, bessere Menschen zu werden und andere wiederum sich darauf beschränken, ihre Mitmenschen zu beobachten und mit dem Finger auf sie zu zeigen, wenn sie sich nicht in allen Punkten moralisch korrekt verhalten.

Mit ihrer Aggressivität teilweise sogar an gewisse mittelalterliche Sektenströmungen, wo alle, die das Glaubensbekenntnis nicht teilten, als Hexen und Hexer angeklagt und verbrannt wurden.

Auch hier bin ich jedoch zuversichtlich, dass am Ende alles so kommen wird, wie es kommen muss. Traurig macht mich nur das Leid, das viele auf dem Weg dorthin erleiden werden…

Das Rad dreht sich - Gedanken im Herbst
Das Rad dreht sich: Gedanken im Herbst

Hier noch ein Song, der mir seit Tagen im Kopf herumdreht. Something has shifted… ich weiss nur noch nicht, in welche Richtung!

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