Christine Finke alias „Mama arbeitet“, hat in ihrem heutigen Blogbeitrag „Kinderbücher und Trennung“ darauf hingewiesen, dass es kaum Kinderbücher über getrennte Eltern oder andere Familienkonstellationen, als Mama-Papa-Kind gäbe, sondern immer nur heile Welt in den Kindergeschichten. Mir kommen jedoch sogar bereits bei den klassischen Autorinnen und Autoren einige Alleinerziehende in Kinderbüchern in den Sinn, und auch sonst ist nicht alles nur flauschig in „Bullerbü“.
Alleinerziehende findet man sowohl bei Lindgren als auch bei Spyri
Gerade bei Astrid Lindgren, deren Geschichten von wunderbaren Freigeistern nur so wimmeln, gibt es mitnichten nur „Heile-Welt-Themen“: Da gibt es schlecht behandelte Waisen- und Pflegekinder (Mio, mein Mio), Krankheit und Tod (Die Brüder Löwenherz) oder Vernachlässigung (Pippi Langstrumpf, die nicht nur mutterlos ist, sondern für ihren Vater gleich auch noch die Verantwortung übernehmen muss). Da sehe ich alles andere, als eine heile Kinderwelt!
Auch Johanna Spyri, die grande Dame unter den Schweizer Kinderbuchautoren, beschreibt in Heidi und anderen Werken das harte Alltagsleben Schweizer Kinder der bäuerlichen und städtischen Unterschichten. Heidi wird nach dem Tod ihrer Mutter von ihrer Patentante, die sich nur widerwillig um sie kümmert und die selber in Teufels Küche käme, würde sie ein Kind zu ihrer Dienststelle im fernen Frankfurt mitnehmen, beim eigenbrötlerischen Grossvater abgeliefert, später Knall auf Fall wieder dort abgeholt und als Mägdlein nach Frankfurt geschleppt, wo sie fremden Leuten zu Diensten sein muss, vor Heimweh fast umkommt und schliesslich – Happy End muss sein! – wieder in ihr neues Zuhause beim Grossvater zurückkehren darf.
Alleinerziehende in Kinderbüchern: Bei Erich Kästner die Norm, nicht die Ausnahme!
Der grosse Kinderbuchautor jedoch, in dessen Kinderbüchern jede Menge Alleinerziehende vorkommen, ist Erich Kästner. Viele seiner Heldinnen und Helden leben mit einer alleinerziehenden Mutter (Emil, Anton, …).
Emils Mutter aus „Emil und die Detektive“ ist Witwe. In „Emil und die drei Zwillinge“ will sie sich nur Emil zuliebe wieder verheiraten und stürzt im Glauben, durch die ungewollte Heirat mit einem ungeliebten Mann ihrem Sohn einen Vater geben zu müssen, fast die Familie ins Unglück. Denn gleichzeitig stimmt Emil im Glauben, seine Mutter würde den Mann lieben, in die Heirat zu.
In „Das doppelte Lottchen“ ist Scheidung und Trennung von Geschwistern das grosse Thema. Beide Eltern sind allein erziehend, jedes mit einem der Zwillinge. Auch wenn die Geschichte ein Happy End hat, so wird den kleinen Leserinnen und Lesern nicht viel von den Ängsten, der Wut, der Unsicherheit erspart.
Anton, der Held aus „Pünktchen und Anton“ ist ebenfalls Sohn einer allein erziehenden Mutter – die zudem schwer krank ist. Er muss neben der Schule einkaufen, kochen und geht nachts, wenn die Mutter schläft, sogar Geld verdienen.
In „Das fliegende Klassenzimmer“ sind Martin Thalers Eltern zwar noch zusammen, jedoch so arm, dass ihr Sohn an Weihnachten nicht nachhause fahren kann. Johnny wurde von seinen Eltern ausgesetzt, und einer der anderen Jungs erfährt ausgerechnet an Weihnachten, dass sich seine Eltern scheiden lassen wollen.
Das sind nur ein paar der Bücher von Erich Kästner, die ich mein Eigen nennen kann. Eine heile, kuschelrosa Zuckerwattenwelt findet man darin nirgends.
Aber man darf nicht denken, dass Kästners Bücher die Scheidung, den Tod eines Elternteils, ins Zentrum seiner Geschichten rückt. Nein, diese sind einfach Teil eines Kinderlebens. Kästners junge Heldinnen und Helden bilden – ohne diese jedoch zu glorifizieren oder zu dramatisieren – die ganze Palette von Familienkonstellationen ab, die es in den 1930er Jahren so gab: Mama-Papa-Kind-Familien, arme Familien, reiche Familien, liebevolle Eltern, vernachlässigende Eltern (man denke an Pünktchens Eltern, die so sehr mit sich selber beschäftigt waren, dass sie gar nicht mitbekamen, wie Pünktchens wechselnde Kindermädchen mit ihr umsprangen), und immer wieder die allein erziehende Mutter. Und diese Familienkonstellationen sind meistens Teil einer Geschichte, jedoch nie ihr Mittelpunkt. Im Mittelpunkt stehen Werte wie Freundschaft, Loyalität, Mut, Zivilcourage. DAS sind Kästners Hauptthemen.
Ihr seht also: Es gibt durchaus Alleinerziehende in Kinderbüchern, auch bei den Klassikern!
Deshalb meine Empfehlung: Wiederlesen!
P.S. Praktisch alle hier genannten Bücher findet man auch auf der Liste meiner Lieblingsbücher, die ich immer wieder lesen könnte.
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Stimmt, liebe Katharina – Kästner ist viel moderner als so manche „Gegenwartsliteratur“. Was mir fehlt, ist allerdings ein Bilderbuch für Kinder 2-7, das ist ja nicht Kästners Metier gewesen. Und überhaupt, die doch sehr überholten Rollenbilder in den sehr populären Serien, sei es im TV oder als CD/Buch.
Meine Theorie dazu, warum bei Kästner so viele Mütter alleine vorkommen: Der Vater könnte im Krieg gefallen oder schlicht an der Front gekämpft haben. Kästner ist 1899 geboren, hat zwei Weltkriege erlebt, und wenn meine magere Allgemeinbildung mich nicht täuscht, waren die Frauen viel allein in diesen Jahren.
Lieben Gruss, Christine
Bücher über Scheidung / Trennung habe ich einige gefunden. Aber solche, wo getrennte / geschiedene / oder andere Eineltern (geschweige denn „Regenbogeneltern“) einfach so am Rande vorkommen, die Geschichten aber ganz ein anderes Thema behandeln, ich glaube, das gibt’s meines Wissens tatsächlich (noch) nicht.
Zur Abwesenheit der Männer bei Kästner könntest Du Recht haben. Wobei man sich aus unserer Perspektive gerne Illusionen macht: Auch in den 1930ern und 1940ern gab es allerlei an Flora und Fauna und durchaus nicht nur die als normal geltende Zweielternfamilie. Diese war jedoch immer das Ideal, genau so, wie sie auch heute als Ideal gilt, obwohl die Realität ja eine andere Sprache spricht.
Und dass dann immer alle Mamas zuhause bleiben und sich liebevoll um ihre Kinder kümmern, das ist grad noch eine weitere Illusion, die in der Menschheitsgeschichte grad mal während 20 oder 30 Jahren – und auch da nur für die Minderheit der Menschen, global gesehen – vorkam. Also vernachlässigbar im Vergleich zu 35’000 Jahren Homo Sapiens Sapiens.
Guten Tag,
wenn ich mal kurz klugscheiÃen darf… Erich Kästner hatte eine sehr enge Mutterbindung und das spiegelt sich auch immer wieder in seinen Büchern. Deswegen kommen immer wieder Mütter vor und nur selten Väter. (Pünktchens Vater ist eine riesen Ausnahme.)
Aber natürlich hat es ganz gut in seine Zeit gepasst.
Mit freundlichen GüÃen und so. 🙂
Und dich habe ich natürlich auch verlinkt! Ich bin mir gerade etwas unsicher, ob ich duzen darf, weil du Frau Finke schreibst, entschuldige, wenn ich für dich unhöflich überkomme, das täte mir leid.
Ja selbstverständlich dürfen Sie mich duzen, Frau Finke 😉
Tschuldigung, das „Finke“ war eine alte Gewohnheit aus der wissenschaftlichen Arbeit, die ich mir im Netz bisher nicht ganz abgewöhnen konnte. Soll nicht wieder vorkommen!
Hallo liebe Katharina (ungehobelt, wenn ich duze? Duz mich bitte auch :-)),
nur kurz zu Lindgren: ich glaube, du hast mich falsch verstanden. Lindgren ist für mich nicht gleichbedeutend mit Idylle, sondern mit einer Welt, in der Kinder frei sein dürfen (und zwar nicht nur in ihrer Phantasie, sondern in ihrem Tun). Dass die Welt der Lindgren nicht heil ist, weià ich. Aber es gibt bei ihr eine Gegenwelt, die Kinderwunden heilt – und das macht Lindgren (im Vergleich zur Heile-Welt-Bilderbuchliteratur) auch so lesenswert.
Kästner ist ein toller Autor, der in seinen Kinderbüchern Themen aufgreift, mit denen er seiner Zeit weit voraus war, den lese ich auch öfter in der Schule mit den GroÃen, und auch dort verliert er nicht seinen (gesellschaftskritischen, leise ironischen, zutiefst humanen) Reiz. Ich habe als Kind „Das doppelte Lottchen“ verschlungen, dabei geheult, weil es mir genau so ging (nur dass es beim Vater nicht mal meine andere Hälfte gab) und mich am Ende gefreut, weil alle wieder zusammenfinden. Dennoch, aber das kann man nicht Kästner vorwerfen, das ist zeitbedingt: das Fehlen von Vater bzw. Mutter wird als Defizit dargestellt, Kinder werden krank, weil ein Elternteil fehlt. Spannend auch: In „Emil und die drei Zwillinge“ reflektieren Mutter und Kind im Zusammenhang mit einem Heiratsantrag daüber, dass sie eigentlich lieber allein miteinander leben möchten, die Mutter aber die Sorge um die finanzielle Sicherheit des Kindes umtreibt. Kästners erwachsene Helden sind so wunderbare Antihelden, und die Kinder werden mit ihren nicht idealen Familienverhältnissen fertig und wachsen daran. Insofern: Vielen Dank fürs Erinnern! 🙂
Letztlich ist es doch nicht wichtig, welche Kinderbücher das Kind hat, sondern wie die Eltern (oder der Elternteil) mit dem möglicherweisen „Anders sein“ umgehen. Wie sie auf Fragen vom Kind reagieren, wie sie selbst ihre Situation sehen (fühlen sie sich „anormal“ in ihrem anderssein oder ist es für sie normal?). Denn ich sehe, dass gerade z.b. Kinder Alleinerziehender doch das Thema des fehlenden Elternteils stark in den Mittelpunkt ücken können (beispielsweise bei Rollenspielen gut zu beobachten), wenn eben dieser zweite Elternteil „fehlt“. Also wenn die Mutter das Gefühl hat, dass sie einen Mann/Vater des Kindes an ihrer Seite braucht, dann wird das Kind auch entsprechend reagieren. Findet der alleinerziehende Vater, er komme ganz gut ohne Frau/Mutter des Kindes zurecht, wird das Kind nicht viel vermissen.
Denn auch ohne Kinderbücher wird das Kind bald merken: aha, meine Freundin und die Nachbarn und Schulkameraden haben alle Mama und Papa, und ich „nur“ eine Mama. Und wenn es eben auch andere Kinder gibt mit solchen „anderen“ Familienkonstellationen, dann lernen die Kinder auch so damit umzugehen (weil sie nicht die Ausnahme sind sondern eher die Regel). Ich finde, Kinderbücher dürfen Heile Welt und Kinderwelt vorspielen. Solche Literatur gibt es sogar für Erwachsene 😉
Zu Vielfalt in Familienbeziehungen fällt mir spotan noch „Joppe“ von Gunnel Linde ein. Dort geht es um einen kleinen Jungen und sein Stofftier Joppe. Dass seine Mutter mit ihm allein lebt, wird anfangs kaum thematisiert, nur flicht sich im Laufe der Geschichten ein Freund und Nachbar ein, den die Mutter – das sieht man als erwachsener Vorleser irgendwann ab – am Ende heiraten wird (okay, das Happy End ist etwas sehr romantisiert aber: Für die Kinder ist das – anders als beim Doppelten Lottchen – eher ein belangloser Nebenstrang).
Dann gibts noch „Oma und der Frieder“, da gibt es gar keine Eltern, es wird auch nie erklärt, warum der Frieder nur bei seiner Oma lebt und mich hat noch nie eines der Kinder danach gefragt. In unserem Sammelsurium fehlt nun noch der alleinerziehende Papa und die Regenbogenfamilie – möglichst auch einfach als Grundkonstellation, nicht als Thema. Bin für Tipps dankbar ;-).
Achja, und „Nella Propella“ fällt mir noch ein von Kirsten Boie. Hier hat die Protagonistin Nella eine alleinerziehende Studierende als Mama und deren Alltagssorgen (zum Beispiel wenn mal wieder der Babysitter für die Zeit der Studiengruppe ausfällt) werden aus Kinderperspektive geschildert, ohne, dass die Familienkonstellation explizit das Thema der Geschichte ist.
Jaaaa … der Kästner Erich! Ich liebe ihn bis heute. Aber es stimmt, ein Buch mit gleichgeschlechtlichem Elternpaar fehlt. Aber bei einer der talentierten Schreiberinnen hier, sollte das doch machbar sein, oder?
Kästner und die Mutter-Rolle, die er in seinen Kinderbüchern beschreibt, ist gut analysiert in der Biographie die Klaus Kordon verfasst hat. Die sich aufopfernden alleinerziehenden Mütter bei Kästner sind wohl kein Zufall.
Bin grade über die Brigitte hier gelandet und habe mich glatt eine Stunde festgelesen, obwohl ich natürlich grade gar keine Zeit habe. 😉
Lindgren und Kästner haben wir durch und ich bin auch der Meinung, dass es vielfältige Familienkonstellationen abbildet udn tausend Mal empfehlenswerter ist als fast jedes moderne Kidnerbuch, das wir gelesen haben. Gerade lesen wir zum wiederholten Mal Ronja Räubertochter als „Abendlektüre“, eins meiner absoluten Lieblingsbücher.
Lieber GruÃ,
Katja