Andrej Kurkow: „Samson und Nadjeschda“ (Rezension) plzmAndrej Kurkow: „Samson und Nadjeschda“ (Rezension) 9d49cb54952e42a8b3018c3ca7915bd7

Seit dem Kriegsbeginn im letzten Februar hatte ich mir vorgenommen, ein paar Bücher von ukrainischen Autorinnen und Autoren zu lesen, um mehr über dieses Land zu seine Menschen zu erfahren. Über Andrej Kurkow (Porträt bei Wikipedia) stolperte ich dann aber zufällig: nämlich, weil mir das Cover von «Samson und Nadjeschda» ins Auge sprang und neugierig machte. Ich kaufe selten in Buch nach seinem Cover – aber hier konnte ich nicht widerstehen.

Erst als ich feststellte, dass die Geschichte in Kiew spielt, realisierte ich, dass ich hier auf einen der aktuell höchstdekoriertesten ukrainischen Autoren gestossen war, und was soll ich schon sagen: Die Lektüre von «Samson und Nadjeschda» war ein Fest!

Die Geschichte

Es ist 1919, mitten in der Russischen Revolution. Verschiedene Fraktionen bekämpfen sich gegenseitig, und die Menschen im ehemaligen Zarenreich versuchen irgendwie, lebendig durch den Winter zu kommen. So auch der 17-jährige Samson und sein Vater. Es sind gefährliche Zeiten:

«Das Geräusch des Säbels, der auf den Kopf seines Vaters krachte, betäubte Samson. Aus dem Augenwinkel sah er das Aufblitzen einer funkelnden Klinge und trat in eine Pfütze. Der linke Arm seines bereits toten Vaters stiess ihn zur Seite, und so traf der nächste Hieb nicht Samsons rothaarigen Kopf, aber auch nicht daneben – er schlug ihm das rechte Ohr ab, Samson sah es fallen, konnte noch die Hand ausstrecken, fing es auf und hielt es festumschlossen in der Faust, während sein Vater mit gespaltenem Schädel direkt auf die Strasse stürzte und das Pferd ihn mit einem beschlagenen Hinterhuf noch einmal niedertrat.»

Was für ein Anfang! Gleich in den ersten Sätzen erfahren wir, wie marodierende Kosaken Samsons Vater umbringen und ihm das rechte Ohr abschlagen. Ein Ohr, das im Laufe der weiteren Geschichte noch eine wichtige Rolle spielen wird!

«Die Ohren sind uns nicht zum Hören gegeben, sondern vor allem zum Hinhören.»

Nun ist Samson allein. Zum Glück nimmt seine Hauswartin den naiven Burschen unter ihre Fittiche, kocht für ihn und stellt ihm Nadjedschda vor, eine junge Frau, die statistische Erhebungen macht:

«Die hat Haare auf den Zähnen, sie kann weich wie Butter sein und hart wie Gusseisen! Schau sie dir mal an, mit so einer Frau wärst du wie bewaffnet. Vor so einer haben sogar die Soldaten Angst!»

Aber auch die beiden Frauen können nicht verhindern, dass die sowjetische Armee zwei zwielichtige Soldaten in Samsons nunmehr viel zu grosser Wohnung stationiert. Prompt stellt sich heraus, dass die Beiden, statt ihrer Aufgabe nachzukommen, lieber die Leute bestehlen. Samson geht zur Polizei und sie werden verhaftet.

Weil er gut lesen und sehr gut Berichte schreiben kann, stellt die Polizei Samson dann gleich ein und fleissig, wie er ist, macht er sich direkt an die Arbeit. Ein silberner Knochen, ein nicht zusammengenähter Anzug und ein toter belgischer Schneider geben ihm Rätsel auf, die er im Laufe der Geschichte mit Nadjeschdas Hilfe und einer guten Portion mit Naivität kombinierter Sturheit eines ums andere lösen kann.

Mein Fazit

Kurkow ist ein Autor mit einer wunderbaren Sprache und der Fähigkeit, Menschen in kleinen Nebensätzen zu beschreiben, dass man sie direkt vor sich sehen kann und das Gefühl hat, als würde man sie kennen.

Dasselbe gilt für Ortsbeschreibungen: Kurkow katapultiert einem mit wenigen Worten mitten in eine Szene hinein, ohne dafür endlose Beschreibungen abzugeben, sondern nur hier und da einen Nebensatz, eine Bemerkung, und schon fühlt man die nassen Füsse oder die Kälte der sternenklaren Nacht, während man mit den Protagonisten durch das winterliche Kiew der Revolutionszeit schlendert.

Streckenweise ist die Geschichte herrlich absurd (das Ohr!), und schafft trotz den sparsam eingestreuten Fantasy-Elementen (das Ohr!) eine Storyline, die die Realität nie verlässt. Ich weiss nicht, wie der Autor das hinbekommt… aber es ist grosse Magie!

Die Dialoge, die Ortsbeschreibungen, die Charaktere – ich könnte stundenlang einfach lesen und geniessen, ohne überhaupt auf den Plot zu achten. Und ganz nebenher lernt man etwas über die Geschichte der Sowjetunion und der Ukraine, über die Mentalität der Menschen in Kiew und über die Zeit der Russischen Revolution, wo alle paar Wochen eine andere Fraktion die Macht übernahm und es mehr verschiedene Währungen gab als Suppenküchen.

Und alles durchdringend natürlich diese mit feinem Humor gepaarte allumfassende Melancholie, die man schon aus der russischen Literatur kennt:

«Seine Augen fielen zu. Es waren weder Wille noch Furcht übrig, um ihn wachzuhalten.»

Sehr dringende Leseempfehlung!

samson und nadjeschda von andrej kurkow
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„Samson und Nadjeschda“ von Andrej Kurkow aus dem Diogenes Verlag

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Klappentext

„Kiew, 1919: In den Wirren nach der Russischen Revolution stösst der junge Samson, gerade zur Vollwaise geworden, beinahe durch Zufall zur neuen sowjetischen Polizei. Sein erster Fall ist gleich äusserst mysteriös: Ein abgeschnittenes Ohr, ein Knochen aus reinem Silber und ein Anzug aus feinem englischem Tuch geben ihm Rätsel auf. Doch die Zeiten sind gefährlich und halten jeden Tag neue Überraschungen bereit. Zum Glück lernt Samson die patente Nadjeschda kennen, die ihm bei den Ermittlungen hilft und an die er schon bald sein Herz verliert.“

„Samson und Nadjeschda“
von Andrej Kurkow, aus dem Russischen übersetzt von Johanna Marx und Sabine Grebing.
Illustriert von Jurij Nikitin
Diogenes Verlag, Zürich, 2022
ISBN 978-3-257-07207-5

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