Spielende Kinder in der Waldspielgruppe
Spielende Kinder (magicpen / pixelio.de)

„Armand darf man nicht umschubsen“, verkündete Kurzer neulich beim Abendbrot.

Seine Aussage hatte keinen Zusammenhang mit irgend etwas, das wir in den letzten Minuten diskutiert hatten.

„Wer ist Armand?“ fragte ich, obwohl ich die Antwort schon ahnte.

Und prompt: „Wer ist denn Armand, wer ist denn Armand, wer ist denn Armand?“-singend tanzte Kurzer singend durch die Küche.

Ach wie gut, dass niemand weiss, wer dieser Armand ist!

Langer und ich assen weiter. Nach ein paar Minuten setzt sich Kurzer auch wieder zu uns. „Armand kann nichts sehen“, verkündet er mit bedeutungsvoller Miene.

Meine Neugierde war geweckt.

Was genau kann Armand nicht sehen?“ hakte ich nach.

„Er kann nichts sehen und er hat meinen Traktor genommen und Vanessa hat gesagt nicht schubsen und er darf meinen Traktor nehmen“.

„Und du hast ihm einen deiner Traktoren gegeben?“

Ich war erstaunt. Kurzer ist jemand, der seine Spielsachen nur mit sorgfältig ausgewählten Personen teilt.

„Lieb sein hat Vanessa gesagt“.

Vanessa ist die Betreuerin.

Es dauerte noch etwas, bis ich alle Informationen einzeln aus meinem wortkargen Sohn herausgequetscht hatte.

Armand ist ein blinder Junge, der seit Neuestem in der Kita in Kurzens Gruppe geht. Er spielt ganz normal mit den anderen Kindern, aber die Betreuerinnen halten ein Auge auf ihn.

Was mich bei der Sache fasziniert: Den Drei- und Vierjährigen ist es völlig wurscht, ob dieser Bub behindert ist oder nicht. Er klaut einem anderen Kind einen Spielzeugtraktor und wird dafür umgenietet. Er ist ein Knabe unter vielen, mit der einzigen Besonderheit, nichts sehen zu können. Kinder in dem Alter nehmen die Unterschiede zwischen ihnen einfach zur Kenntnis: Pierre hat einen roten Rucksack, Emma mag kein Obst, Lisa weint viel und Armand kann nichts sehen. Kinder in diesem Alter werten nicht und versuchen nicht, die anderen zu verändern. Sie nehmen sie, wie sie sind. Die soziale Umwelt wird nicht in zig Kategorien eingeteilt, sondern nur in zwei: „Mag ich“ und „Mag ich nicht“. Mehr braucht es in dem Alter nicht.

Erst die Bemühungen und das Eingreifen der Betreuerinnen machen aus Armand etwas Besonderes. Nicht seine Blindheit hebt ihn aus der Masse der anderen Kinder heraus, macht ihn zu jemadem, der nicht ganz dazu gehört, sondern das grundsätzliche Verbot, ihn niemals zu schubsen – auch nicht zur Selbstverteidigung – und das Gebot, besonders nett zu ihm zu sein. Gerade den letzten Punkt erachte ich als problematisch.

Wäre es nicht besser, sie würden nur dann eingreifen, wenn ein Kind wirklich grob würde und Armand tatsächlich gefährdet wäre, anstatt den anderen Kindern einzubläuen, sich ihm gegenüber besonders rücksichtsvoll zu verhalten? Sollte er nicht auch lernen dürfen, sich erst mal selber zu wehren, bevor jemand einschreitet, wie bei den anderen Kindern wo erst eingegriffen wird, wenn eines weint? Müsste das Ziel der Inklusion nicht sein, ihn so weit wie es nur irgend geht „Kind unter Kindern“ sein zu lassen statt „behindertes Kind unter nicht behinderten Kindern“?

Ich weiss es nicht. Deshalb würde ich mich über Eure Kommentare ganz besonders freuen. Was denkt Ihr darüber?