„Ein Tag, ein Album. Keine Kommentare, nur das Album“ ist ein Facebookspiel, das zur Zeit die Runde macht. Ich gehe die Schachteln mit den CDs durch und so viele Gedanken gehen mir dabei durch den Kopf, dass ich die Sache mit den „keinen Kommentaren“ nicht schaffe. CD, das war damals ja ein voll neues, heisses Ding. Wir hatten ja noch Kassetten und am Sonntag Nachmittag sassen alle Schweizer Jugendlichen neben den Radiogeräten und drückten <play><rec> sobald der Hitparadenmoderator die Klappe hielt. Ja, so war das damals in den achziger Jahren des letzten Jahrtausends…
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Die «Schlachtplatte» von Patent Ochsner war die zweite oder dritte CD, die ich überhaupt besass. Vor allem die beiden Songs «Scharlachrot» und «Belpmoos» hatten es mir angetan. Ewig dauernde, laue Sommerabende auf der Wiese im Eichholz-Camping in der Nähe von Bern, nächtliches Aareschwimmen zwischen dem Eichholz und dem Marzili, schmusen am Rande der Gruppe, sexuelles Ausprobieren, kichern mit den Modis und rauchen mit den Giele. Billiger Rotwein aus Korbflaschen von Denner. Bier aus dem Fässchen, direkt aus der Gurten-Brauerei. Gute Musik, trommeln, tanzen und singen:
«När bisch du cho, grad jetz, wonis nümm hätti gloubt»
(danach kamst du, gerade jetzt, als ich nicht mehr daran glaubte)
Sehnsucht nach der grossen Liebe. Schwärmereien kamen und gingen. Geschmust wurde mit wem auch immer Lust darauf und aktuell keine Freundin hatte. Den Jungen, den ich wirklich liebte, traute ich mich nicht anzusprechen aus Furcht, er könnte nein sagen.
«I chönnti ewig blybe wenis nüt derzwüsche chunnt»
(Ich könnte ewig bleiben, wenn uns nichts dazwischen kommt)
Als Kontrast dazu dann das Belpmoos in den frühen Morgenstunden. Der Flugplatz, das Moos, der leichte Nebel – und dieser Song, der die Stimmung so perfekt einfängt, dass er mich noch 30 Jahre später in einer Sekunde dorthin zurück katapultiert.
«I stah jede Tag da usse, gseh die Flüger cho u gah
di chauti Morgeluft wo nach Trybstoff schmöckt
u dr Näbu chläbt über der Startbahn
u uf der Startbahn hocke Möwe
u ds Fäud isch wyss vom Ryf»
Ich mit dem Fahrrad auf dem Heimweg ins Gürbetal, immer noch angetrunken, die lange Nacht in den Knochen. Schnell nachhause Fahren, duschen, zwei Stunden aufs Ohr hauen, bevor ich wieder zur Schule musste. Die kühle feuchte Morgenluft in den Lungen vertrieb den Restalkohol.
«Bälpmoos, Bälpmoos – schpick mi furt vo hie
Bälpmoos, Bälpmoos – mir isch glych wenn u wie»
Nur fort, nur fort, einfach nur fort von hier!
Dieselbe Band schafft es in nur zwei Liedern auf einer Platte den inneren Konflikt in den Jahren 18-20 einzufangen: Einerseits wollte man das geile Gefühl dieser Jahre, wo man alles konnte, aber noch nichts musste, auf ewig festhalten. Andererseits wartete da draussen die Welt auf einem. Man wollte fort, sie sehen, erwachsen werden, endlich selbständig sein, auf eigenen Füssen.
Die Jahre in der Schwebe zwischen «es soll alles so bleiben» und «es soll sich alles verändern».
Wir gaben uns noch der Illusion hin, dass das Erwachsensein die grosse Freiheit beinhalten würde, ahnten jedoch schon, dass es nicht so sein würde.
«U aues woni miech würd ich mache wüll i s wott
u nid wüll s angeri wei,
ersch rächt nid wüll ig müesst»
Mit fast 50 weiss man mehr. Aber es war eine geile Zeit.
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Nachtrag: Nachdem ich diesen Text geschrieben hatte, suchte ich für die Liedtexte nach dem Albumbüchlein und stellte fest, dass die Platte erst ein Jahr nach dem beiden beschriebenen Sommern, die wir mit der Clique mehr oder weniger auf der Wiese an der Aare im Eichholz verbracht hatten, herausgekommen ist, nämlich 1991. Unsere Klasse und Clique war da bereits in alle Herren Länder verstreut: Einige auf Weltreise, andere in einem Auslandsjahr, noch andere studierten in Bern oder einer anderen Schweizer Stadt. Aber die Stimmung, die Patent Ochsner auf der «Schlachtplatte» eingefangen und kreiert haben, passte offenbar so gut zu meinen Erinnerungen, dass sich der Sound dazu so fest in mein Gehirn und Herz eingegraben hat, dass die beiden Songs auch nach fast 30 Jahren in der Romandie Instantheimweh bei mir auslösen, nach dieser Zeit, diesem Gefühl.
Die vollständigen Texte zum Album kann man sich auf der Webseite von Patent Ochsner herunterladen.
Ich kenne diese Lieder… man ist plötzlich wieder in der Zeit, im Moment zuück. Kürzlich lief eine meiner „Hymnen“ in der Migros… ich konnte mich kaum zuückhalten, ich hätte so gerne mitgepfiffen…
Patent Ochsner erlebte ich mal live in Thun am Stadtfest. Ich wohnte in einer Altstadtwohnung, sie fingen an zu singen, ich lief über zur Bühne, wo auch das Riesenrad stand, fuhr damit und genoss das Konzert… ein tolles Erlebnis: Blick über das hell beleuchtete Thun, Patent Ochsner im Ohr. Das werde ich nie vergessen – wie so viele Lieder und die dazu gehörenden Situationen auch nicht.
Hach, Patent Ochsner. Tolle Band, so viele gute Lieder. Ich kenne keine andere Band, die Stimmungen so gut einfängt und in Musik umsetzt.
Ja, die Stimmungen und auch die leicht rumpelsurige „Berner Mentalität“
(sorry, dass ich deinen Kommentar erst jetzt freischalte!)
War ja nichts Eiliges 🙂