Wieder schwappt eine Welle von Empörung durch die Schweiz. „Therapiewahn“ wird geschrieben und „ist das alles nötig?“ gefragt, eine „Therapeutenmafia“ soll unsere Kinder im Würgegriff haben. Artikel in der NZZ, dem Tagesanzeiger und in diversen Blogs zeugen davon, dass die Frage, weshalb immer mehr Kinder in immer mehr Abklärungen geschickt werden, viele Menschen beschäftigt (*).

„Hilfe von aussen steht und fällt mit einer Diagnose des Kindes“, schreibt andernorts Leidenschaftlichwidersynnig unter dem Titel „Hilf Dir selbst…

Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für die Schweiz. Ohne zahlreiche Abklärungen und abschliessender Diagnose vor dem 5. bzw. dem 9. Geburtstag gibt es bei Verhaltensauffälligkeiten keine finanzielle Unterstützung durch die IV. Für Eltern aus Mittelstand oder Unterschicht hingegen ist es schlicht nicht möglich, ihren Kindern benötigte Förderung aus eigener Tasche zu bezahlen.

Also wird ab Kindergarteneintritt (zwischen 4 und 5 Jahren) therapiert und getestet, abgeklärt und diagnostiziert, damit das Kind, sollte Punkt 404-406 aus dem Anhang 1 der „Verordnung über Geburtsgebrechen“ zur Anwendung kommen, Unterstützung zugute hat:

404.Störungen des Verhaltens bei Kindern mit normaler Intelligenz, im Sinne krankhafter Beeinträchtigung der Affektivität oder Kontaktfähigkeit, bei Störungen des Antriebes, des Erfassens, der perzeptiven Funktionen, der Wahrnehmung, der Konzentrationsfähigkeit sowie der Merkfähigkeit, sofern sie mit bereits gestellter Diagnose als solche vor der Vollendung des 9. Altersjahres auch behandelt worden sind; kongenitale Oligophrenie ist ausschliesslich als Ziffer 403 zu behandeln.
405.Autismus-Spektrum-Störungen, sofern diese bis zum vollendeten 5. Lebensjahr erkennbar werden
406.Frühkindliche primäre Psychosen, sofern diese bis zum vollendeten 5. Lebensjahr erkennbar werden

Anders ausgedrückt: Die Diagnose muss bis zum 5. bzw. 9. Geburtstag stehen. Das ist meines Erachtens der Hauptgrund, weshalb man den Kindern oft eben nicht die Zeit geben kann, sich selber zu entwickeln, bevor abgeklärt wird.

Sollte sich der Verdacht nicht erhärten, hat das Kind auch nach der Abklärung noch alle Zeit der Welt, sich mit oder ohne Unterstützung durch Psychomotorik, Logopädie und was es sonst noch alles gibt in seinem eigenen Tempo zu entwickeln.

Es stehen also handfeste wirtschaftliche Gründe im Zusammenhang mit den Sozialversicherung dahinter, wenn Kinder schon sehr früh eine Abklärung bzw. einen Diagnoseprozess durchlaufen müssen. Mit Therapiewahn hat das nichts zu tun.

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(*) Meistens solche, deren Kinder gesund und altersgemäss entwickelt sind und kein Therapieangebot in Anspruch nehmen. Honi soit qui mal y pense.