Dieser Artikel ist Teil der Blogger Themen-Tage zum Thema „Einfach Sein“ von Quergedachtes.

Ich wurde mit 37 zum ersten Mal schwanger. Als „alte Mutter“ wurde ich schon in der Kinderwunschzeit und frühen Schwangerschaft mit dem Thema Behinderung konfrontiert: „Seid ihr sicher, dass ihr das Risiko eingehen wollt?“  wurden wir mehr als einmal gefragt.

Schon bei der ersten Vorsorgeuntersuchung hat uns meine Frauenärztin ans Herz gelegt, alle zur Verfügung stehenden pränataldiagnostischen Tests machen zu lassen. „Wozu?“ fragten wir, da eine Abtreibung keine Option gewesen wäre. Natürlich hofften wir auf ein gesundes Kind – aber im gegenteiligen Fall hätte sich an unserem Wunsch, genau diesen kleinen Menschen kennen zu lernen, nichts geändert. Wir machten schliesslich den Ersttrimestertest mit Nackenfaltenmessung. Die Wahrscheinlichkeit für die gängigen Gendefekte war so gering, dass wir auf weitere Abklärungen verzichteten.

Beim geplanten Kaiserschnitt lief einiges schief: Kurzer hatte die Lungen voller Fruchtwasser, benötigte eine Atemhilfe und wurde in ein anderes Krankenhaus verlegt, das eine Neonatologie-Station hatte. Als langsam in mein von den Medikamenten vernebeltes Gehirn durchdrang, dass er überlebte, wich die Angst vor dem Sterben der Furcht, dass etwas von der Geburt und der Untersättigung zurückgeblieben sein könnte. Die erste Nacht im Wochenbett verbrachte ich noch halb auf Morphium, das mir neben krabbelnden Nebenwirkungen auch Angstfantasien bescherte mit Erinnerungen an Kinder, mit denen ich aufgewachsen war, die „bei der Geburt nicht genug Luft hatten, wie im Dorf hinter vorgehaltener Hand gemunkelt wurde, und deshalb „ein Bisschen komisch“ waren.

Ich musste mein Kind sehen, es berühren, riechen, fühlen, auch wenn ich vor Schmerzen noch nicht aufstehen konnte. Im Rollstuhl wurde ich gleich nach dem Frühstück auf die Neo gefahren. Mein Baby sah furchtbar aus: Aufgequollen lag es da, gelb im Gesicht, voller Haare, und „Pffft-pffft“ des CPAP-Geräts übertönte die anderen Geräusche der Station. Ein junger Arzt stürzte sich wie eine weiss angezogene Krähe auf mich und nuschelte etwas von „dysmorph“ und „Anomalien“ und „Gentest“ und überhaupt brauche er die Resultate der Fruchtwasseranalyse, die wären bei den Unterlagen nicht dabei. „Ich habe keine gemacht“, stammle ich, völlig überfahren. Ich musste mir einen Vortrag darüber anhören, wie verantwortungslos unsere Entscheidung gewesen sei und dass sie die Āžrzte nun daran hindere, meinem schwer kranken Kind zu helfen. „Ich will das jetzt nicht hören“ weinte ich los. An Schuldgefühlen mangelte es sowieso nicht: Die eine oder andere Zigarette, die ich mir zu Beginn der Schwangerschaft nicht hatte verkneifen können, zu wenig Bewegung, ungesunde Ernährung, die Hustenmedikamente im März – all das könnte Schuld sein daran, dass mein Kleiner nicht richtig atmete.

Die herbei eilende Kinderkrankenschwester jagte den Assistenten weg und fragte, ob ich noch ein wenig bleiben möchte, sie würde mir die Āžrzte vom Leib halten. Ich blieb neben meinem Baby sitzen und wusste so gar nicht, was ich tun sollte. Ich traute mich kaum, es zu berühren. Die Gedanken fuhren Karussell und – sehr ungewohnt für mich – ich schaffte es nicht, sie zurück auf Kurs zu bringen. Zwei Sachen waren mir klar: Ich wollte dieses Geschöpflein kennenlernen, das da vor mir lag, und ich war nicht fähig, wichtige Entscheidungen zu treffen.

Schliesslich vereinbarte ich für den Nachmittag, wenn mein Partner anwesend sein konnte, eine Sitzung mit dem Chefarzt und dem behandelnden Arzt. Danach zog ich mich auf mein Zimmer zurück und hörte Evanescence.

Da sassen wir nun an einem runden Tisch. Auf einer Seite wir Eltern – ich im Schlafanzug – und gegenüber sassen mehrere Weisskittel. Dazwischen die Krankenschwester, die mich am Morgen vor dem übermotivierten Assistenzarzt beschützt hatte.

Erst musste der sich bei mir für sein Verhalten am Morgen entschuldigen. Er stammelte etwas von Sprachproblemen und Sorge um das Baby. Obwohl er zerknirscht wirkte, brodelte es in meinem Innern.
Dann ging es erst richtig los: Sie müssten unbedingt den Grund herausfinden, weshalb Kurzer das Fruchtwasser in den Lungen hatte, und woher all die „Anomalien“ kämen. Die Liste sei lang… und dann zählten sie all die Punkte auf… das alles könnten entweder individuelle Besonderheiten sein – oder aber Hinweise auf eine ernsthafte genetische Erkrankung (immerhin konnte er den Punkt „keine familiäre Āžhnlichkeit“ abstreichen, nachdem er den Kindesvater gesehen hatte). Alles knapp innerhalb der Grenzwerte aber in der Menge suspekt. Und in Anbetracht einer vorhandenen – harmlosen – körperlichen Besonderheit war offensichtlich der Jagdtrieb der Herren Mediziner geweckt worden. Die aufsteigende Wut vertrieb die Wolken aus meinem vernebelten Gehirn:

Ist er noch in Lebensgefahr?, unterbrach ich den Sermon des Assistenten, indem ich mich direkt an den Chefarzt wandte.
Nein“
Haben sie einen konkreten Verdacht?“. Ich sah ihm direkt in die Augen.
Nichts Spezielles, man kann nicht sagen, dass die Anzeichen auf etwas Bekanntes hindeuten…“
Sie wissen also nicht was sie suchen, aber suchen einfach so lange weiter, bis sie etwas gefunden haben“. Das war eine Feststellung.
Was würde passieren, wenn wir gar nichts tun?
Wahrscheinlich überhaupt nichts – aber…
Wenn keine Lebensgefahr und kein dringender Handlungsbedarf besteht, dann lassen sie mein Kind in Ruhe!
Ich stemmte mich am Tisch hoch. Für mich war das Gespräch hiermit beendet.

Eine solche Wut hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie erlebt. Unser kleiner Krieger hatte Infusionen an Händen und Füssen, hing verkabelt am Monitor, das Atemgerät auf dem Gesicht, die Magensonde im Mundwinkel und diese Vampire wollten aus reiner Neugierde noch mehr Löcher in ihn hinein stechen, um ihm noch mehr Blut abzuzapfen. Ich war so wütend auf die Situation und diese Männer, dass ich in dem Moment alles hätte kurz und klein schlagen können. Ich hatte das „Bonding“, die emotionale Bindung zu meinem Sohn, die sich normalerweise während des Geburtsvorganges einstellt, bisher nicht fühlen können. Aber in dem Moment am Tisch mit meinem Mann und den Āžrzten fühlte ich, dass diese Handvoll Mensch auf unsere Hilfe und unseren Schutz angewiesen war und wir  ihm die Geier vom Hals halten mussten!

Wir verweigerten die verlangten weiterführenden Gen- und Bluttests. Zerknirscht rauschten die Götter in Weiss von dannen, nur die Kinderkrankenschwester grinste uns über die Schulter zu.

Als unser kleiner Krieger zwei Wochen nach seiner Entlassung aus der Neonatologie einen Atemstillstand hatte, stellte sich heraus, dass sie das wichtigste Problem – die vorhandene Fehlbildung des Kehlkopfes – tatsächlich übersehen hatten! Erstaunlicherweise hatten sie jedoch bei den darauf hinweisenden Symptomen abgewiegelt und behauptet, die würden sich auswachsen. Der Defekt wurde in einem anderen Krankenhaus operiert und in den langen Wochen der Heilung in unserem Kantonsspital konnten die Āžrzte einen Teil des verlorenen Vertrauens wieder herstellen.

Nun hätte alles gut kommen können… wenn da nicht immer das kleine Angstteufelchen immer mit dabei gewesen wäre, das Kurzen mit Argusaugen beobachtete und mir bei jeder noch so kleinen Abweichung vom Euro-Norm-Standard-Verhalten eines Babys seines Alters ins Ohr flüsterte: „Anomalie!“

Wie schon bei seiner Geburt ist Kurzer bei allen Standarduntersuchungen immer anderswo, als er sein sollte, aber immer knapp innerhalb der Kurve. Jedes Mal wieder: Räuspern, „hmmmm“, Blick in die Papiere, „aha, hmmmm“, und „Sie dürfen ihn nicht mit anderen Kindern vergleichen“.

Aber natürlich verglich ich und machte mir Sorgen. Fragte mich, ob von der Geburt oder dem wochenlang andauernden tiefen Sauerstoffsättigung etwas zurückgeblieben war oder ob wir doch diese Gentests hätten durchführen lassen sollen. Ich konnte zeitweise meinen Sohn kaum ansehen, ohne dass es mir von Angst und Sorgen innerlich alles zusammenzog.

Kurzer war – nachdem er keine Schmerzen mehr hatte und richtig atmen konnte – ein aufgestelltes, fröhliches Baby, etwas schüchtern, aber ein ganz lieber Kerl mit einem wunderbaren Sinn für Humor, der sich schon früh manifestierte. Langsam verschwand meine Angst und machte dem Akzeptieren seiner Eigenheiten Platz.

Aber bei jeder Kontrolle tauchte dieses oder jenes auf und sofort hiess es von Āžrzteseite her wieder: „Das müssen wir im Auge behalten…“. Und jedes Mal kroch mir die altbekannte Angst spinnengleich das Rückgrat hoch, um sich in meinem Gehirn festzusetzen. Aber jedes Mal konnte ich sie erwischen und mit purer Gedankenkraft zerquetschen.

Seither sind Wochen, Monate und Jahre ins Land gezogen. An Stelle der Angst ist das Bewusstsein getreten, dass es gar nicht wichtig ist, ob Kurzer bei manchen Entwicklungs-Meilensteinen vorauseilot oder hinterherhinkt. Wichtig ist, ob er zufrieden ist, ob es ihm gut geht und unsere Familie ist wichtig. Der Rest ist Nebensache. Es gibt keinen Wettlauf, wer als erstes frei gehen, sprechen, auf den Topf gehen oder Meccanomaschinen bauen konnte.

Wenn von seiner traumatischen Geburt und den atemlosen Wochen danach etwas zurückgeblieben sein sollte, werden wir es erfahren und dann wird es immer noch früh genug sein, um sich zu sorgen.

Statt uns über eine ungewisse Zukunft den Kopf zu zerbrechen, versuchen wir, unserem Sohn starke Wurzeln und einen gesunden Boden, in dem er wachsen kann, zu geben. Und wenn ihm eines Tages Flügel gewachsen sind, werden wir hoffentlich den richtigen Zeitpunkt finden, um ihn loszulassen, damit er fliegen kann.


Weitere Artikel zum Thema Krankenhaus