Der bekannte AP-Kinderarzt Herbert Renz-Polster und Gerald Hüther in gemeinsamer Arbeit. Das konnte ich mir natürlich nicht entgehen lassen.
Wie seine Vorgänger ist „Wie Kinder heute wachsen“ flüssig geschrieben und liest sich locker in einem Rutsch. Im Plauderton erzählt Renz-Polster über die Kindheit, die kindliche Entwicklung, wie Kreativität entsteht, über die Probleme, denen unsere Kinder (vielleicht) mal gegenüber stehen werden und wie wir als Eltern und Erziehungspersonen sie auf eine Weise stärken können, dass sie diesen Problemen die Stirn bieten und sie lösen können. Und Hüther kommentiert jedes Kapitel aus seiner eigenen Sicht und steuert so immer wieder interessante Nachdenkereien bei.
Inhaltsverzeichnis
Kompetenzen und Rahmenbedingungen
Natur, so wie sie die beiden Autoren verstehen, ist einerseits die Sache mit den Bäumen, dem Gras und alledem – aber auch jede Art von unstrukturiertem Raum, in dem sich Kinder unbeaufsichtigt aufhalten und ihre Erfahrungen machen können.
Nach einer geborgenen Baby- und Kleinkinderzeit, in der sie sich das dafür nötige Grundvertrauen und erstes Know-How aneignen konnten, werden im Vorschulalter und der mittleren Kindheit zwei Dinge ganz elementar: Dass die Kinder selbst wirksam werden können und dass sie sich in einer Kindergruppe selbst organisieren können. Ob das im Wald oder im Keller eines leer stehenden Gebäudes inmitten der Stadt geschieht, ist dabei nebensächlich. Hauptsache autonom und unbeaufsichtigt.
Auf diesen zwei Punkten – Selbstwirksamkeit und Selbstorganisation – werden im Erwachsenenalter jene Kompetenzen basieren, die so wichtig für das weitere Leben sind: Kreativität, exekutive Kontrolle, Sozialkompetenz, Empathie und Resilienz. Diese Kompetenzen kann man ihnen nicht beibringen, die müssen sie sich selber aneignen können.
Als Erziehungsberechtigte können wir ihnen nur den dafür nötigen Rahmen bieten und der liegt paradoxerweise in der Freiheit des Kindes.
Die Sache mit den Bäumen
Die natürliche Umwelt, „das grosse Draussen“, stellt sozusagen den perfekten Entwicklungsraum für unsere Kinder dar. Hier könnten sie wirksam werden, hier könnten sie miteinander tagelang im Wald verschwinden und erst zum Abendbrot wieder bei ihren Familien erscheinen und dabei lernen, miteinander klarzukommen, Fähigkeiten auszubauen, Geschicklichkeit zu trainieren.
Aber Bullerbü ist wohl unwiderruflich dahin. Jedenfalls für uns hier in Mitteleuropa.
Aber auch wenn die heutigen Kinder nur noch eine „bereinigte“ Natur kennen lernen, werden sie beispielsweise von den vier Elementen angezogen, wie die Motte vom Licht. Die Beschäftigung mit Erde, Feuer, Wasser und Luft scheint ein elementares Bedürfnis der kleinen Menschen zu sein, etwas, was zu begreifen, auszutesten fest in ihrem Erbgut einprogrammiert zu sein scheint.
Aber was kann die Natur, was die Schule und 24-Stunden-Betreuung nicht kann?
Wie Herbert Renz-Polster auf seiner Webseite schreibt (zitiert nach www.kinder-verstehen.de, „Meine Themen“):
„[…] Denn die wichtigste Aufgabe in der Kindheit ist der Aufbau eines tragfähigen Fundaments. Dass Kinder lernen, mit ihren Emotionen klar zu kommen. Dass sie sich in andere Menschen hineinversetzen können, dass sie eine innere Stärke und Widerstandskraft entwickeln. Das kann den Kindern nicht über didaktische Programme vermittelt werden. Dazu brauchen Kinder Freiraum. Sie brauchen das Spielen und Gestalten in unstrukturierten Umwelten. Sie brauchen die Freiheit, sich auf Augenhöhe mit anderen Kindern selbst zu organisieren.“
An den Eigenschaften der Natur – hier im Sinne von physischer Umwelt – kann ein Mensch wachsen.
Die natürliche Umwelt ist unmittelbar: Ihre Reaktion kommt sofort. Ich fasse die Flamme des Feuers an und brenne mich an der Hand. Es braucht keine Erklärungen, kein „ich zähle auf drei“, keine Vorträge und keine erfundenen Konsequenzen, weder Strafen noch Belohnungen, um dem Kind etwas beizubringen. „Gott straft sofort“ sagten wir selber als Kinder im Spass, wenn eines von uns unkonzentriert war und vom Baum fiel.
Das unbeaufsichtigte, unstrukturierte Spiel gibt dem Kind Freiheit. Die Freiheit, seine Herausforderungen selber zu wählen. Die Freiheit, Achtsam zu sein, sich einen Nachmittag lang auf eine Sache zu konzentrieren bis es sie beherrscht oder aber sich ablenken zu lassen, wenn etwas anderes seine Neugierde weckt. Die Freiheit zu Forschen und zu entdecken, oder aber die Freiheit nichts zu tun, im Geheimversteck zu liegen und Leute zu beobachten oder die Wolken zu zählen.
Diese Freiheit nach der Schule kannten wir selbst noch, gönnen sie aber unseren eigenen Kindern heute kaum mehr, weil wir sie von der Schule zum Sport, vom Sport zur Musik und von dort ins Frühenglisch, die Logopädie und Psychomotorik schleppen. Und abends wird es früh dunkel und da wäre es doch draussen gefährlich, also lassen wir sie lieber einen Film schauen oder mit pädagogisch wertvollen Spielsachen spielen.
Die Natur, die physische Umwelt, bietet Widerstand und lernt unsere Kinder Frustrationstoleranz, Geduld und Durchhaltevermögen. Wenn es aus eigenem Antrieb auf diesen Felsen klettern will, wird ein Kind so lange üben, bis es hochkommt, sofern man ihm die dafür nötige Zeit lässt. Bei keiner von Eltern oder Lehrpersonen vorgegebenen Aufgabe kann die Motivation höher und die Beharrlichkeit grösser sein, als bei einer selbst gewählten Herausforderung.
Im freien, unstrukturierten Spiel setzen sich Kinder immer Ziele, die gerade noch knapp innerhalb ihrer Reichweite liegen, für die sie sich aber ganz schön anstrengen bzw. vor denen sie sich ein klein wenig fürchten (Renz-Polster nennt das die „Kribbelzone“). Auf diese Weise erweitern sie täglich ihre Grenzen und ihre Fähigkeiten.
Ein Computerspiel oder sonstige Spielsachen können dem Kind nicht denselben Widerstand entgegen setzen, wie die Natur selber dies tut. Auch andere Personen nicht. Wer auf einen Baum geklettert ist, muss wieder herunterkommen, es gibt keine Alternative dazu. Wer schwimmen will, wird nass. Wer einen Kilometer gelaufen ist, muss auch wieder zurück gehen. Die Möglichkeit, einfach auszuschalten wenn man nicht mehr mag besteht nicht. Und Gefahren sind echt, man hat keine drei Leben und kann nicht einfach neu starten, wenn man runter gefallen ist.
Die vierte Eigenschaft ist die Verbundenheit. Damit meint Renz-Polster einerseits die Verbundheit zwischen den Kindern einer „Bande“, das gegenseitige Vertrauen und Helfen, Geheimnisse teilen usw. Andererseits die Verbundenheit mit der physischen Umgebung: Der Garten, der Wald in der Nähe, die alte Stadtmauer oder der Park werden automatisch Teil des „Zuhause“ des Kindes, es kennt jeden Stein, jeden Busch, hat „seine“. Seine Umwelt ist ihm vertraut und es fühlt sich ihr verbunden.
Mit der Verbundenheit geht auch das Sorge tragen – den Mitmenschen, aber auch der Umwelt – einher. Die Werte, die wir versuchen unseren Kindern mitzugeben, werden für sie konkret und nachvollziehbar. Mein Sohn nahm mit drei Jahren bereits den Jaucheschaum wahr, der an manchen Sommertagen unterhalb unseres Wasserfalles das Baden verunmöglicht. Gewässerverschmutzung wird so für ihn sichtbar und riechbar, und hat direkte Auswirkungen auf sein Leben; Sie bleibt nicht etwas Abstraktes, das in der Schule behandelt oder über das ihm erzählt wird.
Und deshalb sind Computer böse?
Keiner der beiden Autoren würde so weit gehen, Computer und Bildschirme ganz zu verteufeln. Beide haben jedoch einen kritischen Blick darauf, insbesondere dort, wo Apps und Internet an die Stelle von echten, greifbaren Naturerfahrungen treten oder diese sogar verdrängen – je kleiner die Kinder, desto kritischer. Auch Bücher, so lernen wir, sind für die ganz kleinen nicht ideal, aber immerhin wird ihr Inhalt in der Beziehung zu einer älteren Person vermittelt, ein Buch liest sich nicht selber vor. Bei elektronischen Spielsachen wie Lern-APPs oder Tiptoi hingegen fällt die Beziehung weg. Deshalb kann das Kind immer nur wieder die von den Programmierern vorgegebenen intellektuellen Pfade beschreiten, jedoch keine neuen Erkenntnisse gewinnen oder Gedankenpfade entlanggehen.
Womit wir bei Gerald Hüthers Lieblingsthema angelangt werden. Er schreibt aus der Sicht des Hirnforschers und stellt die Frage: Was benötigen unsere Kinder? Benötigen sie weiterhin hergebrachtes Wissen, das sie bei Bedarf abrufen können, erlernte Lösungswege für immer wieder kehrende Standardsituationen oder werden sie, wenn sie erwachsen sind, vor allem die Fähigkeit benötigen, in einer sich immer schneller verändernden Welt kreative, neue Lösungen entwickeln zu können?
Der ketzerische Gedanke dahinter: Wir haben im Hier und Jetzt absolut keine Ahnung, welches Wissen unsere Töchter und Söhne in zehn oder zwanzig Jahren benötigen werden, weil dieses Wissen heute noch gar nicht existiert!
Und deshalb sollten wir, so die Autoren, uns nicht damit aufhalten ihnen ihre Köpfe mit akademischem Wissen aufzufüllen, das in ein paar Tagen, Wochen oder Jahren bereits veraltet sein wird – und das sie zudem jederzeit online abrufen können. Viel dringender müssen sie lernen, neu auftauchende Probleme zu erkennen und zu lösen, Dazu brauchen sie die Fähigkeiten, die sie sich nur durch das unstrukturierte, freie und ungeführte Spiel in ihrer natürlichen Umgebung aneignen können sowie das durch konkrete Erfahrung gründlich verankerte Vertrauen darin, dass sie diese Lösungen tatsächlich auch finden können.
Meine persönliche Meinung über „Wie Kinder heute wachsen“
Ich habe das Buch gerne gelesen, da ich Herbert Renz-Polsters Schreibstil sehr mag und seine Meinung über weite Strecken sowieso teile. Da ich seine anderen Bücher kenne, kam inhaltlich für mich nicht viel Neues.
Interessant fand ich die Gedankengänge von Gerald Hüther am Ende jedes Kapitels, von dem ich bisher ausser ein paar Interviews nichts gelesen hatte. Sein Fachwissen als Hirnforscher bereichert auf jeden Fall Renz-Polsters Diskurs und ist meines Erachtens ein grosses Plus für das Buch.
Auch wenn das gesamte Buch in einem lockeren Plauderton gehalten ist, sind alle Aussagen wissenschaftlich fundiert. Mir sind keine leeren Behauptungen aufgefallen (wobei ich natürlich keine Spezialistin auf dem Gebiet bin). Sehr positiv hingegen sind wie immer bei Renz-Polster die Fussnoten bzw. Endnoten und Anmerkungen am Schluss sowie die zahlreichen Literaturhinweise, mit deren Hilfe sich Interessierte tiefer in gewisse Themen einlesen können.
Was ich sehr schade finde, ist dass die Autoren in den beiden letzten Kapitel („Wege in die Natur“ und „Naturerfahrungen in einer bedrohten Welt“) nicht konkreter werden. Die heutige Situation ist nun mal nicht mehr, wie wir sie als Kinder in den siebziger und achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts noch kennen gelernt haben: Es sind viel weniger Kinder draussen unterwegs, so dass die Chance auf eine altersdurchmischte, herumstreunende Kinderbande, an die unsere eigenen Kinder Anschluss finden können, relativ gering ist. Zudem müssen Eltern, wenn sie ihre Kinder „herumstreunen“ lassen im Falle eines Unfalles mit behördlichen Konsequenzen oder gar einer Strafverfolgung wegen Vernachlässigung rechnen.
Gerade unter diesen Umständen wäre ich, als Mutter, die die im restlichen Buch präsentierten Gedankengänge nachvollziehen kann und über weite Strecken teilt, froh gewesen über konkrete Möglichkeiten, wie ich mein Kind „zurück in die Natur“ bekomme und die über „Waldspielgruppe“ und „Waldkindergarten“ hinaus gehen.
Denn beide Möglichkeiten sind erstens auch nur Kompromisslösungen, weil sie strukturiert und pädagogisch geführt sind und zweitens stehen sie nur dort offen, wo ein entsprechendes Angebot besteht. Und Familien mit entsprechenden finanziellen Möglichkeiten, auch das darf nicht vergessen werden!
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Klappentext
Herbert Renz-Polster und Gerald Hüther – der eine Kinderarzt, der andere Hirnforscher – führen in diesem faszinierenden Buch zu den Quellen, von denen eine gelungene Entwicklung unserer Kinder abhängt. Zu finden sind diese Quellen – in der Natur.
Und Natur ist dort, wo Kinder Freiheit erleben, Widerstände überwinden, einander auf Augenhöhe begegnen und dabei zu sich selbst finden. Aber ist Natur nur das »grosse Draussen«, Wiesen, Wälder und Parks, Spielstrassen und Hinterhöfe? Oder lässt sich Natur vielleicht auch drinnen finden – zum Beispiel in der grossen weiten Welt hinter den Bildschirmen?
Anschaulich und eindrucksvoll entwickeln die beiden Bestsellerautoren eine neue Balance zwischen Drinnen und Draussen, zwischen realer und virtueller Welt.
Herbert Renz-Polster, Gerald Hüther
Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Fühlen und Denken.
Ratgeber
Hardcover
Beltz Verlag Weinheim und Basel
ISBN: 978-3-407-85953-2
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Zum Weiterlesen
- Buchseite des Beltz-Verlages mit Autoren-Video und Pressestimmen
- Blog „Kinder verstehen“ von Herbert Renz-Polster
- Die Seite über das Buch mit Pressemappe und 5 Thesen zum Weiterdenken
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Bezugsquellen
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Eins vorweg: ich hab das Buch nicht gelesen.
Aber mir fehlt schon vorbei der Besprechung die Perspektive der vielen Kinder, die sich die Welt aus gesundheitlichen/ entwicklungsbedingten Günden nicht auf einfache und Natürliche Weise ( alleine ) aneignen können, sondern dazu Hilfsmittel brauchen. Das mag z.B. ein Mensch sein, der beim Klettern hilft oder Technik / menschliche Hilfe bei unterstützter Kommunikation.
In Zeiten des inklusiven Denkens ein unverzeihliches Defizit.
Was die ‚Neue Balance‘ zwischen drinnen und drauÃen angeht: alle wollen in die Natur, aber keiner will zu Fuà hin. Für mich fängt es bei den Erwachsenen an. Förderkurse ohne Ende, verplante Kindheit. Solange Leistung unsere Religion ist, wird es eine Harmonie / Balance mit der Natur nicht geben.
Weder für Kids noch für uns.
Zu Gerald Hüther. Er ist mein „Freund nicht.
Zwar wird er als Guru gehandelt, hat aber ( neben einigen guten Gedanken ) schon viel Unheil angerichtet, indem er z.B. Kinder, die eben die emotionale Selbstregulation aufgrund neurologischer Disposition nicht ohne besondere Unterstützung entwickeln ( auch ADHS genannt ) in einem Almprojekt der Natur und sich selbst ausgeliefert hat. Medienwirksam im STERN vermarktet, auf Kosten der Kinder und deren Familien.
Mir sind Eltern bekannt, die aus Verzweiflung ihr Kind dort hingeschickt haben und nun noch verzweifelter sind.
Aus einigen in der letzten Zeit in die öffentliche Kritik geratenen Projekten hat er sich zuück gezogen.
DIE ZEIT schreibt über Hüther:
Und stets wird ihn dabei eine Aura umstrahlen: Denn Hüther beruft sich auf die neue Königsdisziplin der Wissenschaft, die Hirnforschung. Wo andere nur daüber spekulieren, wie Kinder richtig lernen, scheint es der Prof. Dr. rer. nat. Dr. med. habil. von der Uni Göttingen neurobiologisch erklären zu können…..
…. Als Mitbegünder von „Schule im Aufbruch“ ist Hüther deren wissenschaftliches Aushängeschild. Tatsächlich ist die Universität Göttingen eine gute Adresse für die Neurowissenschaften. Dort gibt es sowohl ein Exzellenzcluster als auch eine Graduiertenschule zum Thema. An keiner dieser Einrichtungen aber ist Hüther beteiligt. Auch in den anderen neurowissenschaftlichen Instituten taucht sein Name nicht auf â dafür aber an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie als einer von drei Dutzend „wissenschaftlichen Mitarbeitern“. Hinter seinem Professorentitel verbirgt sich eine auÃerplanmäÃige (apl.) Professur. Mit ihr dekorieren Universitäten habilitierte Mitarbeiter, die ohne reguläre Hochschullehrerstelle bleiben. Und was ist mit der „Zentralstelle für neurobiologische Präventionsforschung“, der Hüther als Leiter vorsteht? So lässt er sich ankündigen, so steht es in der Vita, die seine Vorträge begleitet. „Zentralstelle“ â das klingt nach vielen Mitarbeitern und bedeutender Forschung.
Nachzulesen hier : https://www.zeit.de/2013/36/bildung-schulrevolution-bestsellerautoren
Danke für die Ergänzungen!
Das Buch dreht sich ganz klar nicht um Kinder mit speziellen Bedürfnissen.
Wobei für mich selbstverständlich ist, dass man auch solche Kinder frei spielen lassen und an ihre eigenen Grenzen gehen lassen kann, sofern man dabei auf die spezifischen Bedürfnisse des Individuums achtet.
Auch für Kinder mit neurologischen Störungen sind Naturerfahrungen wichtig und tun ihnen gut, denke an all die vielen Therapieformen mit Tieren, die es heutzutage gibt. Es muss nicht mal Therapie sein, auch „normaler“ Umgang mit Tieren kann einem Kind (sofern es sich nicht fürchtet) gut tun. Ich kenne da beispielsweise einen Jungen mit Hyperaktivitätssyndrom. Unglaublich wie ruhig und beherrscht er im Reitstall sein kann! Das Reiten, das Pflegen der Pferde, der Umgang mit ihm hat ihm zu mehr Selbstkontrolle und -beherrschung verholfen, als zig Therapiestunden. Das mag nicht für alle zutreffen, aber sicher für viele.
So wie ich das Buch verstehe, kann auch das Musikmachen zu diesen „Natur“erfahren gehören, so lange es selbstorganisiert und unstrukturiert ist. Einfacher gesagt: Freies Spielen, ausprobieren, geniessen, im „Flow“ schwimmen, über sich selber hinauswachsen.
Ja, die Freiheit sich in unterschiedlichsten Bereichen zu erproben, brauchen alle.
Schade finde ich, dass es noch immer Bücher für ‚Normale‘ und Bücher für ‚ Gehinderte ‚gibt.
Dabei weià man doch längst, dass niemand nur das Eine oder das Andere ist.
Ich gehe davon aus, dass alles was im Buch geschrieben wurde, auf für „Gehinderte“ gilt (immer im Rahmen ihrer Möglichkeiten, versteht sich). Dazu braucht es kein extra Buch.
In den „literarischen Kinderbanden“ sind ja immer die verschiedensten Kinder mit ihren Markenzeichen mit dabei, ein paar davon würde man heutzutage ganz sicher diagnostizieren und schubladisieren – und von den anderen Kindern isolieren. Schön wäre, wenn Besonderheiten und Abweichungen vermehrt als Spielarten einer vielfältigen Normalität betrachtet würden statt immer gleich pathologisiert (natürlich so weit wie möglich, versteht sich, immer und überall ist es nicht möglich).
Wenn es so wäre, dass diese Spielarten bekannt wären und anerkannt würden, gäbe es keine AuÃenseiter.
Die gab es aber auch schon zu der Zeit, als Emil und seine Detektive durch die Strassen zogen. Genau so wie Mobbing und Schikanieren Andersartiger (auch das sind Themen, die in dem Buch nicht vorkommen).
Ja, leider. Füher war halt nicht alles besser.
Mein Skepsis beruht auf der Erfahrung, dass etliche Menschen, die diese Art Bücher gelesen haben, den Schluss daraus gezogen haben : ALLE Kiddies müssen auf Bäume klettern toll finden, im Matsch spielen prima , barfuss im Gras laufen genieÃen…usw. Und wenn sie es nicht tun, liegt es an den Eltern, die ihnen diese tollen Naturerfahrungen nicht nahelegen bzw. sie vermeintlich keine Erfahrungen machen lassen.
Ich bin einfach schon zu oft angepappt worden, weil ich mein Kind bei Dingen unterstützt habe, für die andere Kids keine Unterstützung brauchen.
Wäre doch schön, wenn sich sowas in ganz normalen Ratgebern wiederfände.
Und als Frau bin ich irgendwie allergisch auf “ die sind doch mitgeneint“ .
Vllt. schau ich dennoch mal in das Buch rein. Wenn es dazu führt, dass mehr Kinder aus den Förderkursen raus und zum Bolzen auf den Spieli oder Park dürfen ist es ja gut.
Ich habe das Buch erst angefangen aber wieder zur Seite gelegt. Die Kritik an Hüther ist mir auch bekannt und liess mich zweifeln. Werde die Lektüre dennoch heuer wieder angehen 😉
Von Hüther sind immer die Aufsätze am Ende jedes Kapitels, die auf buntem Papier gedruckt sind. Im Notfall kannst Du die ja einfach überspringen 😉
Ich kannte die Kritik bisher nicht, finde aber nicht so furchtbar schlimm, was er hier schreibt. Einfach ein paar Inputs zum daüber nachdenken, aber so sehe ich eigentlich das gesamte Buch: Etwas zum daüber nachdenken, nicht als Bibel, die es wörtlich zu befolgen gälte.
Was hat denn der Autor gegen Bücher?! Das würde mich interessieren… LG
Nichts. Seine Kritik bezieht sich darauf, dass heute das Kognitive / Intellektuelle / Akademische im Vergleich zu anderen Dingen, die Kinder lernen müssen, zu viel Raum einnimmt. Das Gleichgewicht stimmt nicht mehr: Der Baum wächst in die Höhe, bevor er starke Wurzeln hat, die ihn am Umfallen hindern.
Gewisse überlebenswichtige Fähigkeiten kann ein Mensch nicht aus Büchern lernen, sondern nur und wirklich nur durch die konkrete Erfahrung mit physischen Hindernissen und in Interaktion mit anderen Kindern: Frustrationstoleranz, Kreativität, Resilienz, Durchhaltevermögen, Kompromissfähigkeit, Sozialkompetenz, Empathie…
So eine Sicht hatte ich ehrlich gesagt noch nie auf ein Buch. Bedeutet lesen nicht träumen, neue Welten entdecken, Mut fassen, Ideen sammeln, Lachen, Weinen, Staunen… Wenn das nicht jedes Kind braucht, soviel wie möglich? Lesen ist doch auch erleben oder? Das ist doch heute, nicht anders als vor hundert Jahren… Vielleicht war der Herr einfach selber zu lang Akademiker und kann kein Buch mehr sehen 😉 LG
Wir missverstehen uns. Es geht überhaupt nicht um literarische Bücher.
Die Kritik der Autoren richtet sich gegen die Entwicklung in den letzten Jahren, dass beispielsweise kleine Kinder Bücher über Bäume geschenkt bekommen, aber nicht die Möglichkeit, eigene Erfahrungen mit Bäumen zu machen („Baum“ kann auch beliebig was anderes sein). Bücher über Bäume sind nicht per se schlecht – aber sie können nicht die konkrete Erfahrung ersetzen, nicht dasselbe Wissen vermitteln. Nicht das „virtuelle“ ist schlecht, sondern das Wegfallen des „realen“.
Ja das habe ich schon verstanden… Es geht sicher um eine Balance zwischen real erfahrbaren Eindücken und medial vermittelten. Nichtsdestotrotz bieten Bücher und auch andere Medien, einen groÃen Mehrwert, in der Entwicklung eines Kindes, der in so einer Diskussion ganz verschüttet wird. Wichtig ist, dass man Kindern so viele echte Eindücke wie möglich bietet. Das das nicht immer gut gelingt in der heutigen Zeit, würde ich auch nicht bestreiten. Ich meine nur, dass das eine (Eindücke aus Medien usw.), das andere (echte Leben) nicht ausschlieÃt, sondern eine Symbiose ist. LG
Es könnte eine Symbiose sein, richtig. Fakt ist aber auch, dass wenn das Kind im Zimmer am Computer sitzt, ist es nicht gleichzeitig draussen am herumstreunern.
Während es sich Medienkompetenz und kognitives Wissen aneignet, kann es sich nicht die Fähigkeiten aneignen, die es nur im unstrukturierten, selbstorganisierten Spiel erlernen kann.
Wollen wir zuerst die Wände und das Dach, schöne Fenster und verschnörkelte Treppen bauen oder zuerst das Fundament für das Haus? Darum dreht sich die Frage.
Gleichzeitig geht das wohl nicht, das ist wahr. Aber du wirst kein Haus bauen, ohne dich vorher in der Theorie belesen zu haben. Mich stört der fatalistische Unterton bei diesem Thema. Ich bin mir sicher, es gibt einen gangbaren Mittelweg. Und diesen muss jeder für sich und sein Kind finden, denn die Veränderungen sind schon passiert. Wir wohnen mitten in der Natur, meine Tochter klettert, tollt, entdeckt Tiere und Pflanzen jeder Art. Liebt Bücher mehr als alles andere. Aber sie darf auch eine Kinder-App spielen und virtuell durch eine Wimmelburg klettern und Ritter und Burgfräuleins suchen 🙂
Das ist eben unser Weg…
Es ist auch nicht so fatalistisch, wie es in der Zusammenfassung vielleicht überkommt. Ich kann hier ja nicht das ganze Buch in allen Feinheiten wiedergeben.
Die Kritik an Bücher geht ja vor allem in die Richtung, dass ein (erfundenes) pädagogisches Büchlein „Hänschen lernt teilen“ Klein-Hänschen das Teilen nicht beibringen kann, sondern nur und wirklich nur die Interaktion mit anderen Kindern. Um nur ein Beispiel zu nennen.
Für mich ist die Quintessenz des Buches wirklich nicht, gewisse Spielsachen oder Tätigkeiten zu verbieten, aber unsere Kindern ein Maximum an nicht zweckgerichtetem, unstrukturiertem, selbst organisiertem Spielen – am besten mit anderen Kindern – zu ermöglichen und zwar Draussen, im Freien, wo die Möglichkeiten weniger beschränkt sind, als Drinnen.
Diese unterstreiche ich gerne!
LG Nadja
Danke, für deine Rezension. Bin schon gespannt aufs Buch!