In meinem Facebook-Feed ist heute ein alter Artikel von Tollabea aufgetaucht, der mich getriggert hat. Wirklich getriggert im Sinne von einer heftigen, unverhältnismässig starken emotionalen Reaktion. Ich habe in den letzten Jahren und durch mehrere Depressionen hindurch gelernt, solche Emotionen ernst zu nehmen, ihnen nachzuspüren, sie ans Licht zu zerren und von allen Seiten her zu beleuchten. Also, was hat es mit „sei nett“ auf sich, dass mich diese Aufforderung gleich auf 180 bringt?
Um was geht es?
Eigentlich war es nicht einer, sondern zwei Artikel von Tollabea: Der Erste heisst „Wann ist es eigentlich unmodern geworden, nett zu sein?“ und der Zweite, auf den der Erste die Antwort ist, hiess „Sei das nette Kind„. In beiden geht es darum, dass man öfter mal freundlich zu seinen Mitmenschen sein soll – ein hehres Anliegen, das ich durchaus unterstütze.
Wenn ich aber den Titel mit der Aufforderung „sei das nette Kind“ lese, verkrampfen sich meine Muskeln, meine Atmung wird flach und mein Blutdruck steigt augenblicklich. Ich werde wütend und mein Unterbewusstsein brüllt „NEIN; ICH WILL NICHT NETT SEIN!“, schon bevor ich überhaupt den ersten Buchstaben des Artikels gelesen habe.
Was ist da los?
Sei nett! – das hiess bei uns zuhause „sei brav“:
Gehorche, sei nicht frech, streite nicht mit deiner Schwester, sei doch wenigstens du vernünftig, zieh etwas Nettes an.
Sei nett! – das hiess bei uns zuhause „ordne dich unter“ :
Auch wenn du im Recht wärst, ordne dich trotzdem unter, denn du bist das Kind, du bist die Jüngere, du bist das Mädchen.
Sei nett! – das hiess „schlucke deine Wut herunter“:
Du hast kein Recht, deine Wut auszudrücken. Du hast kein Recht, wütend zu sein. Anderen geht es viel schlechter als dir, also also sei nett!
Sei nett! – das hiess „wehre dich nicht“:
Sogar wenn du schikaniert oder ungerecht behandelt wurdest, sei nett. Sei besser als die anderen. Lass dich nicht provozieren. Halte die andere Wange auch hin. Liebe deine Feinde. Sei nett!
Sei nett! – das hiess „ehre Vater und Mutter“:
Auch wenn sie dich ins Gesicht schlagen, dich für die Taten deiner Geschwister bestrafen oder dir den Kopf rasieren: Du darfst darüber nicht wütend, sondern musst dankbar sein, denn sie meinen es ja nur gut mit dir.
Ich! Will! Nicht! Nett! Sein!
Das Problem mit der Wut ist, dass sie nicht einfach auf Befehl verschwindet. Wenn man nett sein will, und sie runterschluckt, kann sie verheerenden Schaden anrichten. Vor allem, wenn man als Kind zu hören bekommt, dass man kein Recht hat, sie zu fühlen.
„Ich verstehe nicht, wo diese unglaubliche Wut bei Ihnen herkommt“, sagte vierzig Jahre später die Psychiaterin zu mir. „Aber ich bin gar nicht wütend, ich werde eigentlich nie wütend“, antwortete ich ihr. „Sie sollten aber“, gab sie lapidar zurück.
Es war ein langer Weg, um von diesem Punkt dahin zu kommen, wo ich heute stehe.
Aber eines ist klar: „nett“ ist ein Adjektiv, das ich nie mehr in Bezug auf mich hören will!
(gegen „freundlich“ habe ich aber nichts, „freundlich“ gefällt mir sehr gut)