Es ist ein strahlender Nachmittag, und ich sitze auf der Bank am Spielplatz unterhalb des Schlosses. Ich sehe Kurzer zu, wie er zum gefühlt 500sten Mal die Rutschbahn runterrutscht – neuerdings rückwärts auf dem Bauch. Sein Lachen ist ansteckend. Eigentlich sollte ich mich freuen. Aber im Kopf habe ich das schlechte Gewissen.
Denn ich weiss: Anderswo findet ein toller Anlass statt. Einer, der Kurzem mit Sicherheit grossen Spass machen würde. Ich habe die Einladung gesehen, den Flyer gelesen, die Bilder vom Vorjahr. Es wäre perfekt für den kleinen Lausbuben, denke ich, aber er will lieber rutschen.
Verpasste Chancen oder vertraute Sicherheit?
Natürlich habe ich versucht, ihm das Alternativprogramm schmackhaft zu machen – mir täte etwas Abwechslung und ein Gespräch mit anderen Erwachsenen auch wieder mal gut. Doch Kurzer zog „seine“ Rutschbahn vor. Er kennt jeden Stein auf diesem Spielplatz, jede Kante der Rutschbahn und jede Strebe des altmodischen Klettergestells aus Metall.
Kinder hängen am Bekannten. Sie klammern sich manchmal regelrecht an dem fest, was sie schon kennen. Das Vertraute gibt ihnen Sicherheit in einer Welt, die eh schon gross und verwirrend ist. Kein Wunder, dass sie das Neue erst mal skeptisch betrachten. Der Spatz in der Hand ist eben besser als die Taube auf dem Dach.
Aber verpassen sie dadurch nicht etwas? Andere Leute sind mit ihren Kindern in diesem Alter schon nach Übersee geflogen und in den Europapark und Legoland sowieso. Bieten wir ihm genug? Hätte ich ihn einfach packen und dem Anlass schleppen sollen? Hätte ich ihm dadurch die Gelegenheit gegeben, etwas Neues zu entdecken, neue Erfahrungen zu machen, neue Eindrücke zu sammeln? Wahrscheinlich schon. Denn die Wahrheit ist: Sobald wir dort angekommen wären, hätte er sicher Spass gehabt. Kleinkinder können zwar Wutanfälle am Laufmeter produzieren, aber wenn der Anfall mal vorbei ist, fügen sie sich recht schnell in ihr Schicksal und geniessen den Rest des Tages.
Warum Routinen für Kinder so wichtig sind
Kinder bevorzugen das was sie schon kennen, weil es ihnen hilft, ihre Welt zu ordnen. Wiederholung ist kein langweiliges Übel, sondern ein wesentlicher Teil ihres Lernprozesses.
Das millionste Mal die gleiche Geschichte, dasselbe Hörspiel, derselbe Film? Das gehört zu ihrer Entwicklung dazu. Die Geschichte bleibt gleich, aber sie nehmen dabei jedes Mal etwas Neues wahr: eine Formulierung, eine Emotion, ein Detail. Ihr Gehirn entwickelt sich, es vernetzt sich. Und wehe, wir erzählen die Geschichte „falsch“, d.h. leicht anders als die anderen 56473 Mal vorher!
Dasselbe gilt für vertraute Spielplätze und Routinen. Das Ritigampfi (Schaukel), das Klettergerüst, die Rutschbahn – all das ist nicht nur Zeitvertreib, sondern Training. Kinder probieren sich aus, verfeinern Bewegungen, schulen ihre Sinne. Der Rückweg vom Spielplatz? Eine Gelegenheit, die Welt im eigenen Tempo zu betrachten: Eine Schnecke auf dem Trottoir, ein Stecken, der sich als Schwert eignet, ein Stein.
Aber es geht nicht nur ums Lernen, sondern auch um die emotionale Sicherheit. Bekannte Abläufe, bekannte Gesichter, bekannte Orte – sie geben Halt und einen vertrauten Rahmen innerhalb dem die Welt überschaubar ist.
Was Eltern wirklich verpassen
Vielleicht ist es gar nicht der Kurze, der hier etwas verpasst. Denn er hat ja Spass und tut, was er gerne tut, ohne darüber nachzudenken, was andernorts gerade läuft. Vielleicht bin ich es ja, die etwas verpassen könnte?
Während ich auf dem Bänklein sitze und ihn beobachte, merke ich, dass mein Kopf bei dem ist, was hätte sein können. Was der Kurze lernen könnte. Was andere Eltern machen würden. Und ich verpasse dabei total, wie sehr er in seiner Welt, in seinem Flow ist. Ich verpasse seine Erfolge und seinen Stolz auf den Rückwärtsbauchrutscher.
Kinder leben im Moment. Sie brauchen keine Eventplanung oder Erlebnisagenda, um zufrieden zu sein. Sie brauchen uns – präsent, aufmerksam, bereit, in ihrer kleinen Welt Platz zu nehmen. Für sie ist das, was zählt, nicht der Anlass, sondern der Mensch, der sie dorthin begleitet – oder sie eben beim Schaukeln anstösst oder unten an der Rutschbahn auffängt.
Von Schnecken und anderen Schätzen
Als wir über die Mauer wieder in unseren eigenen Garten zurückklettern, erzählt mir Kurzer noch einmal von seinem Tag. Da war die Schnecke, die am Klettergerüst hochgeklettert war. Der Stecken, den er Papa für sein Feuer schenken wollte. Und die Katze „Miston“, die sich vor uns auf den Rücken warf und sich von ihm den Bauch streicheln liess. Für mich waren das kleine, nebensächliche Dinge. Für ihn war es ein Abenteuer.
Kinder sehen die Welt mit anderen Augen. Für sie liegt das Besondere oft im Banalen. Die Schnecke an der Kletterröhre ist für ihn spannender als irgend ein Ausflug. Der Stecken ist ein perfektes Geschenk für jemanden, der gerne Feuer macht. Es kommt eindeutig viel weniger darauf an, wo wir hingehen, als darauf, wie wir den Moment erleben.
Das grosse Ganze nicht verpassen
Am Ende des Tages ist er müde, zufrieden und glücklich. Er erzählt Papa von der Schnecke und schenkt ihm den Stecken, bevor er ins Bett krabbelt und einschläft. Hätte er auf dem Anlass mehr erlebt? Vielleicht. Hätte er mehr Spass gehabt? Vielleicht auch. Aber er hat nichts „verpasst“. Er hat gelebt, gelacht und geträumt – und das in seinem eigenen Tempo.
Wir Eltern müssen nicht jedes Erlebnis kuratieren. Es ist nicht unser Job, für unsere Kinder die perfekte Kindheit zu entwerfen. Stattdessen dürfen wir darauf vertrauen, dass sie genau das mitnehmen, was sie brauchen, egal ob auf dem vertrauten Spielplatz oder bei einem grossen Event.
Vielleicht verpassen wir eher etwas, wenn wir sie ständig antreiben. Vielleicht verpassen wir den Zauber des Moments, weil wir immer auf das Nächste blicken, auf das, was noch kommen könnte.
Wie geht Ihr mit solchen Momenten um?
Geht es Euch ähnlich? Überredet Ihr Eure Kinder, Neues auszuprobieren, oder lasst Ihr sie entscheiden? Was passiert, wenn wir uns weniger um die „verpassten Chancen“ sorgen und mehr darauf achten, was gerade vor uns liegt? Schreibt mir in den Kommentaren, ich bin gespannt, wie Ihr das erlebt.
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Kinder können gar nichts verpassen – das ist meine Meinung. Und an die Situationen auf dem Spielplatz und dem 1000dsten Mal Runterrutschen kannten wir auch sehr gut. Ich habe einmal in einem PEKIP-Kurs gelernt: Solange ein Kind sich mit irgendwas beschäftigt, einfach nicht stören. Machen lassen. Egal, wie langweilig das für uns aussehen mag. Wir Eltern sind es, die häufig eine Handlung unterbrechen und finden: Schau doch auch noch da, mach doch auch noch dies… etc. etc. Und dann wundern wir uns, dass unsere Kinder nicht konzentriert und länger als eine Sekunde an etwas dran bleiben können. Ich habe gelernt, einfach so lange nichts zu sagen, bis die Buben etwas anderes wollten. Mit dem Alter kommt das dann füh genug… Geniesse es also noch, dass du ruhig auf einer Bank warten kannst, bis der Kurze genug vom Spielplatz hat!
Habe ich gerade auf google+ empfohlen – gefällt mir, die Einstellung, liebe Katharina! Während du an Ratgeberitis erkrankt bist, darf ich sagen, eine starke Allergie gegen Förderitits zu haben 😉
Herzlichen Gruss, Christine
Hey, ich hätte zumindest gerne gewusst, was das „Andere“ gewesen wäre. So dachte ich die ganze Zeit, wohin du wohl hast gehen wollen mit dem Kleinen…. 😉
Wir machen aber oft auch „nur“ das, was den Kids Spass macht, und das ist manchmal ganz simpel. Egal. Ehrlich gesagt haben wir aber auch schon Sachen „durchgezogen“, die wir halt gerne haben wollten und wo wir wussten, dass es den Kids Spass machen würde, wenn sie es erst mal sehen würden. So egoistisch bin ich schon.
Hihi, etwas mit Traktoren denk 🙂
Logisch, wenn ich dort hin möchte, dann ist’s wieder etwas anderes, dann wird verhandelt. Aber wenn es mir egal ist und dem Kurzen wichtig (und der Lange gar nicht dabei ist) dann darf er bestimmen. Das ist bei uns aber immer so, wenn es jemandem wichtig ist und den anderen nicht.
Das händeln wir bei uns auch so!
Als Eltern einer Kleinen (22 Mte) sind die Entscheidungen „noch“ bei uns.
Beim Lesen der Geschichte kam mir gleich eine Situation mit meinem Gottemeitschi in den Sinn. Wir hatten abgemacht für einen coolen Tag und meine Schwester hat im Vorfeld nichts besseres gewusst, als ihr mitzuteilen, was dann – während ihrer Abwesenheit – alles Zuhause passieren wird.
Der Erlebnistag war dann ziemlich kurz und von grossem Heimweg geplagt. Danke für die proaktiven Informationen!!