Von der ersten Sekunde an, in der mein Sohn geboren wurde, musste ich ihn anderen Menschen anvertrauen. Da mir irgendwann im Laufe meiner eigenen Biographie das Vertrauen in meine Mitmenschen abhanden gekommen war, war das eine harte Lektion.

Schon das Wort „Anvertrauen“ beinhaltet „Vertrauen“: Darauf vertrauen, dass sie es grundsätzlich gut meinen mit meinem Kind. Darauf vertrauen, dass sie meinem Kind weder selber Schaden zufügen, noch zulassen, dass es Schaden erleidet.

Manche nennen es Gottvertrauen oder Urvertrauen: Die Gewissheit, ganz tief in einem drin, das es schon gut kommen wird.

Das Schlimmste war natürlich gleich nach der Geburt, den Āžrzten und medizinischen Fachpersonen blind vertrauen zu müssen, dass sie mein Kind retten könnten, dass sie mehr für ihns tun könnten, als ich selber in der Situation. Auch im Kinderspital jeden Abend nachhause zu gehen und darauf zu vertrauen, dass mein Baby nicht würde weinen müssen, dass sich jemand eben so liebevoll um es kümmern würde, wie ich selber. Am liebsten wäre ich dort geblieben, aber ich war selber rekonvaleszent und musste zu mir selber schauen. Selten ist mir diese Entscheidung übrigens so schwer gefallen.

Trotzdem: Ich lernte zu vertrauen.

Später lernte ich meinen Sohn besser kennen und da ich täglich die meiste Zeit mit ihm verbrachte, kannte ich ihn und seine Bedürfnisse automatisch am besten. Und nun kam, wenn ich ihn anderen Menschen anvertraute, ein weiterer Faktor hinzu: Das Aufgeben der Kontrolle und der Einflussnahme über seine Bedürfnisse und wie sie zu erfüllen seien. Denn schon, wenn ich den Langen alleine mit dem Kurzen spazieren gehen liess, konnte ich während dieser Zeit keinen Einfluss auf ihn nehmen.

Als Kurzer dann ab zweijährig einen Tag die Woche in die Kita ging, wurde das Gefühl des Kontrollverlustes noch stärker. Was wusste ich denn, wie die Erzieherinnen dort mit ihm umgingen? Wurden meine Anweisungen tatsächlich auch wortgetreu umgesetzt, oder taten die Erzieherinnen, was sie wollten, sobald ich die Türe hinter mir schloss?

Ich musste mich entscheiden: Im Vertrauen loslassen und meine Arbeitstage ruhig verbringen oder misstrauen, nachkontrollieren, wie auf Kohle sitzen?

Gewisse Dinge konnten wir aus dem pädagogischen Konzept und Gesprächen mit der Kita-Leitung und der ständigen Bezugsperson des Kurzen entnehmen. Im Grossen und Ganzen waren wir zwar zufrieden mit der Kita, aber keine Institution, auch keine andere Hüteperson ist immer und jederzeit 100% genau auf der gleichen pädagogischen Linie wie man selber. Schon um zwischen Langem und mir gab und gibt es ständige Verhandlungen und Diskussionen, um Regeln, „Gos“ und „Nogos“ festzulegen und Kompromisse zu finden. Dann dasselbe nochmal mit der Kita und den Grossmüttern…

Ohne Kompromisse einzugehen und auch mal Fünfe gerade sein zu lassen, ist das schlicht nicht möglich und dazu muss man zeitweise die Zügel aus der Hand geben.

Ich glaube, das war das Härteste: Die Zügel aus der Hand geben.

Dabei läuft doch die ganze Erziehung auf diesen einen Moment hinaus, in dem wir Eltern die Zügel abgeben und es dem Kind selber überlassen, seinen Lebenskarren zu steuern.

Schon jetzt, wenige Wochen nach dem ersten Schulbesuch, merke ich, wie neue Ideen in seinen Kopf eindringen. Er sieht andere Menschen, weiss, dass ihnen anderen Dinge wichtig sind, dass bei ihnen andere Regeln gelten als zuhause. Ich finde das bereichernd und für uns alle sehr wertvoll. Dürfte er keine anderen Erwachsenen, keine anderen Weltanschauungen und anderswo geltende soziale Normen und Regeln kennen lernen, dann hätte er auch viel weniger Rollenvorbilder. Und nur mit möglichst vielen Vorbildern kann er für sich selber das Beste aus allem auswählen und wirklich sich selber zu werden statt einer Kopie von uns Eltern.

Nur die Auseinandersetzung mit anderen Weltanschauungen und alternativen Lebensweisen erlaubt einem Menschen, sich für oder gegen das zu entscheiden, was wir Eltern ihm vorleben.

Um so weit loslassen zu können, dass es auch andere Vorbilder erkennen und annehmen kann, braucht ein Kind unser Vertrauen. Das Vertrauen seiner Eltern darin, dass er mit oder ohne sie schon seinen Weg finden wird, ihr Vertrauen in ihre eigenen Erziehungsfähigkeiten, ihr Vertrauen in ihr Kind, und ihr Vertrauen in diese besondere Verbindung, die sie jahrelang zu ihm aufgebaut und gepflegt haben.

Und nur wenn Eltern dieses Vertrauen tief in sich fühlen, werden sie ihr Kind guten Gewissens in die Welt entlassen können, die sich spätestes nach der Einschulung in ihrer ganzen Pracht vor ihnen entfaltet.

Ein Kind muss seinerseits seinen Eltern vertrauen können, dass es ohne Liebesentzug und Bewertung seiner Person andere Wahrheiten, andere Meinungen erforschen und ausprobieren, sich eine eigene Meinung über die Welt und die Menschen in ihr bilden darf ohne dafür als Person von seinen Eltern abgelehnt zu werden.

Und nur wenn es ganz tief drinnen spürt, dass seine Eltern ihm vertrauen, kann sich ein Kind in Freiheit, mit Haut und Haar auf diese Welt einlassen und muss nicht ständig zurück blicken um sicher zu stellen, dass es noch geliebt wird.