Dieser Artikel bezieht sich auf das Schweizer Schulsystem der neuesten Generation (HarmoS und LP21) sowie die hiesigen Möglichkeiten und Regeln von Privatunterricht und nicht auf die Verhältnisse in Deutschland.

In diesem Artikel geht es darum, wie wir zwar darüber nachgedacht, uns aber schliesslich gegen Homeschooling entschieden haben.

Stillen, Tragen, Familienbett – das waren vor fünf Jahren die Pfeiler von Attachment Parenting, der beziehungsorientierten Elternschaft, was man in alternativen Kreisen besonders oft antrifft. Am Rande gehören dazu auch Themen wie Windelfrei, Vegetarismus/Veganismus, Nichtimpfen, Homöopathie, und sonst noch ein paar Dinge aus dem alternativ-esoterischen Spektrum.

Auch in alternativen Kreisen gibt es Modeströmungen und eine solche stellt der zunehmende Trend zum Homeschooling und die Romantisierung des so genannten freien Lernens dar, den ich in meinem Umfeld zur Zeit beobachte.

Wissen, ist die Grundlage von Frieden, von Wohlstand und von Demokratie. Die Grundlage von Wissen ist Bildung. Je mehr Bildung sie verfügen, desto mehr können die Menschen in einem Land mitbestimmen und desto besser geht es ihnen.

Deshalb bin absolut für das Recht jedes Kindes auf Bildung und für die Pflicht der Staaten, dieses Recht zu gewährleisten. Ohne Diskussion. Bei der Schulbildung handelt es sich um ein Menschenrecht und sie ist somit universell und unteilbar gültig.

Das Recht jedes Menschen auf Bildung – unabhängig seiner Klasse und der finanziellen Möglichkeiten seiner Eltern stand am Anfang der Schulpflicht in der Schweiz und anderer europäischer Länder. Und deshalb wird auch in Kantonen, die das Unterrichten zuhause erlauben, pedantisch darauf geachtet, dass die Lehrpläne eingehalten und der vorgeschriebene Stoff vermittelt werden.

Unschooling, also wirklich freies Lernen nur nach Interessenlage des Kindes und frei von  erwachsenem Eingreifen in die Themenwahl und Lerntempo, ist also auch hier, im „Traumland des Homeschoolings“, nicht möglich.

Gegen Homeschooling, die Kinder sollen lieber mitarbeiten, ca. 1909
Eltern gegen Homeschooling, ca. 1909 – damals mussten die Kinder noch mitarbeiten

Kindgerechtes Lernen ist für ein Einzelkind zuhause gar nicht möglich

Homeschooling soll kindgerechtes Lernen ermöglichen, also diese wunderbaren Momente, in denen ein Kind in den Flow versinkt und sich intensiv mit etwas beschäftigt, das es gerade begeistert und interessiert.

Kindgerechtes Lernen ist aber weitaus mehr als das: Nämlich das Lernen mit und von anderen Kindern, in altersdurchmischten, stabilen Gruppen. Damit sind nicht nur Geschwistergruppen gemeint: In einer artgerechten Umgebung orientieren sich Kinder nach der Geburt eines jüngeren Geschwisters und dem damit einhergehenden Loslösen von der Mutter mehr und mehr an der Kindergruppe des Dorfes oder des Quartiers.

Eine artgerechte Kindergruppe besteht aus Kindern verschiedenen Alters und das ist etwas, was vom Schweizer Schulsystem bisher nicht gefördert wurde. Mit der neuen HarmoS-Basis- und Mittelstufe ist die Altersdurchmischung besser gegeben. Ich bezweifle, dass man in einem System wie der modernen Volksschule noch näher an eine natürliche Sozialumgebung herankommen kann: Jedes Kind ist gleichzeitig älter als andere und jünger als andere.

In einer reinen Geschwistergruppe sind die Rollen,  vergeben und unveränderlich. Und ein Einzelkind wie unser Sohn, das es liebt mit anderen Kindern zusammen zu sein, würde verkümmern, wenn er grösstenteils alleine lernen müsste, während die anderen Kinder in der Schule oder dem Hort sind. Seit er in der Vorschule ist beobachten wir jeden Tag erneut, wie er wächst und aufblüht. Er wäre unrecht, ihm das nicht zu gönnen. Deshalb sind wir gegen Homeschooling für unser Einzelkind.

Ablösung von den Eltern und Vertrauenspersonen ausserhalb der Familie

Viele Homeschooler fürchten die von Gordon Neufeld („Unsere Kinder brauchen uns!“ – Werbelink) kritisierte „Gleichaltrigenorientierung“ – also dass sich Kinder und Jugendliche tendenziell eher an ihrer Peergroup orientieren, als an ihren Eltern.

Logisch bleibt die Bindung zwischen Eltern und Kindern eng, wenn sich die Kinder im Alltag 24 Stunden am Tag unter elterlicher Aufsicht befinden. Ich bezweifle, dass eine solche künstlich beibehaltene exklusive Bindung auf Dauer für die Beteiligten gesund ist. In einer artgerechten Umgebung gehen jüngere Kinder mit den älteren mit und eifern diesen nach. In der altersdurchmischten Gruppe lernen sie nicht nur, sich an Älteren zu orientieren und von ihnen zu lernen, die lernen gleichzeitig auch, auf Jüngere Rücksicht zu nehmen.

Spätestens mit 12 oder 13, wenn die Kinder in die Gruppe der Jugendlichen übergehen, geht der endgültige Ablöseprozess von den Eltern los. Sie bilden sich eine eigene Meinung und wollen ihr Leben selbst gestalten. Je mehr die Erwachsenen hier ihren Kindern vertrauen und je mehr sie auf Kontrolle verzichten, desto unbeschadeter und konfliktfreier werden die Familien die Jahre der Pubertät überstehen (das ist im Übrigen meine grösste Kritik an Neufeld, dazu später mehr in einem eigenen Posting).

Das hat natürlich nur am Rande mit unserer Entscheidung gegen Homeschooling zu tun. Wobei gerade während den Jahren der Pubertät und den starken Konflikten mit meinen Eltern war es für mich extrem wertvoll, nicht nur gleichaltrige Freunde, zu haben, sondern auch Beziehungen zu zahlreichen anderen Erwachsenen ausserhalb des Dunstkreises meiner Eltern. Ich war eine depressive und sehr rebellische Jugendliche und die Vertrauensbeziehung zu einigen meiner Lehrer hat mir mehr als einmal erlaubt, meine Sorgen bei jemandem ausserhalb der Familie deponieren zu können.

Bekannte meiner Eltern, Pfarrer, Hausarzt, Jugendpsychiater wären damals keine Vertrauenspersonen für mich gewesen, da sie gefühlt mit meinen Eltern verbündet waren. Für mich war es wichtig, „eigene“ Vertrauenspersonen wählen zu können, die in keinerlei Verbindung zu meinen Eltern standen, sondern quasi in „meinem Team“ spielten.

Sobald die Welt für die Kinder grösser wird, müssen sie die Möglichkeit haben, ausserhalb der Familie, ausserhalb der Kontrolle der Eltern, Beziehungen zu anderen Menschen jeden Alters eingehen zu können. Lehrpersonen und andere Erwachsene im Schulbetrieb bieten grosse Auswahl an möglichen Bezugspersonen. Da das Kind oder die Jugendliche sie fast täglich sieht, ist die Beziehung auch stärker als beispielsweise zu Sport-Coaches oder Pfadi-LeiterInnen.

Soziale Kompetenz und soziale Verantwortung

Einer der Gründe für die Einführung der Schulpflicht war, dass sich vorher nur wohlhabende Familien Bildung via Privatlehrer leisten konnten. Dieselben sozialen Schichten (Adel und Geldadel) legten dann auch alles daran, um sich das Privileg der Bildung erhalten zu können. Sprich: Die Kinder der Unterschichten sollten von der (höheren) Bildung ausgeschlossen werden. Das ist heute nicht anders.

Privatunterricht finden wir heute vor allem in der gebildeten Mittelschicht. Die Eliten schicken ihre Kinder in Privatschulen. Die Volksschule wird in manchen Orten und Quartieren regelrecht zur „Problemzone“, weil viele Kinder der modernen Unterschichten (Sozialhilfebezüger und/oder Kinder aus Migrantenfamilien) dort hingehen. Als Homeschooler könnten wir all die dadurch entstehenden Konflikte vermeiden. Das hätte zur Folge, dass mit der Zeit ein neuer „Bildungsadel“ entstehen würde, und ein „Bildungsproletariat“. Diese Entwicklung ist bereits im Gange, eine Verweigerung der Volksschule durch die Mittelschichten würde sie verstärken und beschleunigen.

Gerade die soziale Durchmischung der Volksschule, also das mehr oder weniger erzwungene Zusammenleben mit Kindern aus ganz anderen sozialen Umgebungen, kann das Leben unserer Kindern bereichern. Natürlich entstehen Konflikte – aber die sind mit elterlicher Unterstützung lösbar und können wichtige Lektionen auf dem Weg zum verantwortungsbewussten Erwachsenen sein.

Unsere Rolle als Eltern ist es, unsere Kindern zu begleiten und zu coachen, damit sie lernen können, mit anderen Menschen aus ganz anderen Umgebungen – und auch mit Arschlöchern – klar zu kommen. Oh ja, Letztere findet man auch schon bei den ganz Kleinen!

Das ist das Eine. Und das andere ist die soziale Verantwortung: Als „bildungsmässig Bessergestellte“ erachte ich es als meine Staatsbürgerinnenpflicht, mich in und für die Gemeinschaft einzusetzen, in der ich lebe. Und das heisst für mich: Partizipation statt Separation! Deswegen spricht für mich auch dieser Punkt gegen Homeschooling.

Verantwortung übernehmen

Verantwortung habe ich nicht nur gegenüber meiner eigenen Familie und meinem direkten Umfeld, sondern gegenüber meinem Quartier, meiner Gemeinde, meinem Dorf. Ich engagiere mich als Einwohnerrätin in der Schulpflege und als Elternvertreterin im Schulkreis. Auf diese Weise kann ich direkt teilhaben an der Ausgestaltung der Lehrpläne, der Stundenpläne, der Einstellung und Betreuung des Lehrpersonals. Ich kann mich einsetzen für die Belange der Eltern und Schulkinder in unserer Gemeinde, gerade auch in den aktuellen Veränderungsprozessen bezüglich Harmonisierung der Lehrpläne auf gesamtschweizerischer Ebene sowie der Neugestaltung des Schulkreises im Laufe der verschiedenen Gemeindefusionen, die hier gerade auf der Tagesordnung stehen.

Weshalb ich das mache? Weil ich es kann. Und weil ich es als meine Pflicht anschaue, meine Fähigkeiten (auch) für meine Gemeinschaft einzusetzen. Wenn ich Kritik an gewissen Punkten unseres Schulsystems äussere (und es gibt viele davon), dann ziehe ich mich nicht in meine Schmollecke zurück, sondern suche gemeinsam mit anderen nach Lösungen und einem neuen, besseren Konsens.

Ich könnte sagen: Ich finde das Schulsystem hat zu viele Nachteile und ich mache jetzt mein eigenes Ding, die anderen gehen mich nichts an. Aber so bin ich nicht.

[Edit: Übrigens haben wir ein paar Jahre später das Experiment dann doch wagen müssen: Homeschooling, sag niemals nie]

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