Mein Opa hat viele Jahrzehnte lang jeden Morgen in der Bibel gelesen, über das Gelesene nachgedacht und dafür gebetet, an diesem Tag gottgefällig handeln und leben zu können. Heutzutage empfehlen nicht mehr Pfarrer, sondern unzählige Lebenscoaches ihren Kundinnen und Kunden, sie sollen sich eine Morgenroutine ausdenken und angewöhnen, um inspiriert und voller Energie in den Tag zu starten. Ich selbst habe jahrelang – erfolglos, wie Ihr Euch denken könnt – versucht, mir so eine Morgenroutine anzugewöhnen, und jeder Versuch endete in Frustration und Schuldgefühlen.

Bis ich loslassen und mich als Person akzeptieren lernte, die am Morgen einfach nur in Ruhe ihren Kaffee trinken und die Zeitung lesen will. Seither lebe ich glücklich und erfolgreich als Person ohne inspirierende Morgenroutine.

Deshalb musste ich vor ein paar Tagen schmunzeln, als die hochgeschätzte Muriel, die als „Mom of 4“ bloggt, in einem Instgramposting dafür warb, man solle sich eine Morgenroutine angewöhnen, und ausserdem würden alle erfolgreichen und glücklichen Menschen früh aufstehen.

Am Ende des Postings die Frage: „Hast du schon eine selbstbestimmte #Morgenroutine?“ Da sich für mich „selbstbestimmt“ und „Morgenroutine“ seit meinen vergeblichen Versuchen, am Morgen regelmässig zu journalen, zeichnen, schreiben, meditieren, turnen, walken oder yogälen gegenseitig ausschliessen, habe ich eher flapsig und mit einem Lachsmiley garniert geantwortet: „Ich mache die Betten und lüfte. Das muss reichen“. Muriel fragte zurück „Und für dich machst du nichts?“.

In diesem kleinen Austausch entfaltet sich beim näheren Anschauen ein ganzes Drama…

Betten und Lüften sind tatsächlich die einzigen zwei Dinge, die ich früh morgens TUE:

  • Ich habe diese Tätigkeit selbst gewählt
  • Ich gestalte sie gezielt
  • Ich setze sie täglich um
  • Sie ist auf meine Bedürfnisse abgestimmt (oh ja! In einem ungeschüttelten Bett schläft man nicht halb so gut wie einem gemachten, gelüfteten Bett)
  • Sie wirkt positiv auf mich (siehe oben)
  • Sie wird langfristig beibehalten (seit Jahrzehnten!)

Bei näherem Hinschauen hat sich der vemeintlich witzige Spruch als allerernstester Ernst herausgestellt: Betten auslüften ist tatsächlich die einzige Morgenroutine, die ich habe und seit 30 Jahren durchziehe! Und die Tätigkeit tickt jede Einzelne von Muriels Boxen!

Anstelle des vorgeschlagenen 10-minütigen Pflichtprogramms am Morgen früh, noch bevor der Rest der Familie aufsteht, das zudem auch noch „vor allem Spass machen muss“ („müssen“ und „Spass machen“ im gleich Satz kommt selten gut) tut nicht zwangsläufig „nichts für sich“.

Ich trinke Kaffee. Schaue aus dem Küchenfenster auf den Wald und den Fluss. Lese Zeitung. Streichle die Katze. Geniesse die Stille, wenn alle aus dem Haus sind.

Am Ende liegt der Schlüssel zur Zufriedenheit gar nicht im Tun, sondern im Sein?

P.S. Übrigens mache ich sehr viel für mich: Yoga, walken, meditieren, mich weiterbilden, lesen, schreiben, journaling, Serien bingen, trommeln, singen, und und und – einfach nicht morgens vor dem Frühstück, sondern meistens abends, wenn der Rest der Familie schläft und nur ich und die Katze noch wach sind, um über den Schlaf der anderen zu wachen.