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Meine grosse Schwester ist ein Jahr älter als ich. Deshalb durfte sie einiges mehr als ich und schlief im roten Kajütenbett oben. Mit sechs durfte sie in den Kindergarten und ich nicht. Und mit sechseinhalb bekam sie zu Weihnachten ein richtiges Buch geschenkt und ich nicht. Nicht eines dieser Kinderbücher mit mehr Bildern, als Buchstaben, sondern ein richtiges Buch. Vorne war es schwarz, mit einer weissen Gestalt und hinten war es grün, mit derselben Gestalt aber schwarz („Das Kleine Gespenst“ bei amazon.de oder medimops.de).

Meine grosse Schwester kam mir so gross und überlegen vor. Denn sie hatte ein Buch und ich nicht. Und nun lernte sie auch noch die Buchstaben. Das war so unfair!

Bücher. Bücher waren diese Dinger, aus denen uns schon lange vorher allabendlich vorgelesen wurde. Wir hatten keinen Fernseher (das waren die 70er Jahre, da gab es noch nicht mal überall Farbfernsehen), der Radio lief selten, und wir wohnten in einem einsam gelegenen Haus, weitab von der Ortschaft wo meine Schwester in den Kindergarten ging. Unsere Spielgefährten waren Anja, die Hündin, Minou, der Kater und zahlreiche namenlose Kühe, Pferde, Schweine,…

Abends jedoch, wenn wir unsere Entdeckungstouren beendet hatten und gebadet im Bett lagen, dann wurden wir in andere Welten katapultiert. Die „Wegwerfgeschichten“ unseres Vaters hörten wir ganz besonders gerne. Aber auch Mutters Vorlesestunden mit den „Turnachkindern“ (bei amazon.de, bei medimops.de), dem Rösslein Hü (siehe Rezension) und wie sie alle hiessen.

Aber nun änderte sich das abendliche Ritual. Meine Schwester hatte ja nun ein eigenes Buch, aus dem sie las. Leider konnte sie aber nicht still lesen, also war ich gezwungen, im unteren Kajütenbett zuzuhören, wie sie flüsternd die Worte buchstabierte und zusammensetzte, später laut vorlas.

Das wollte ich auch! Aber sie war die Āžltere und sowieso, etwas so Wertvolles wie ein Buch bekam man nicht einfach so.

Wenige Monate danach kam Ostern und dann der Geburtstag. Und auf meinem Gabentisch zu meinem eigenen sechsten Geburtstag lag ein schwarzes Buch, mit der Zeichnung einer Frau in Rot, die ein lustiges Kopftuch trug und auf einem Besenstiel über einen Wald und ein gelbes Haus flog („Die kleine Hexe“ bei amazon.de und medimops.de). Die Buchstaben hatte ich in der Zwischenzeit auch gelernt, aber das hier war schon eine andere Liga: Ein echtes, richtiges Buch, eines mit nur ganz wenigen Zeichnungen und vielen kleinen Buchstaben! Der Ehrgeiz hatte mich gepackt und da ich nicht nur alles auch könnten wollte, was meine Schwester konnte, sondern auch noch viel besser, lernte ich das Lesen im richtigen Buch mit stummen Lippen, ohne Buchstabieren und ohne Flüstern!

Und so kam ich zu meinem ersten Buch. An Weihnachten desselben Jahres (es dürfte 1977 oder ’78 gewesen sein) bekam ich zu meinem Buch ein Büchergestell geschenkt und damit es nicht ganz so leer ausschaute, ein zweites Buch: „Der kleine Wassermann“ (bei amazon.de, bei medimops.de). Meine Schwester bekam den ersten von drei Hotzenplötzern (Hotzenplotzen?) und das war erst der Anfang!

Das dunkelbraune Büchergestell habe ich heute noch. Und die im Spass gemeinte Prophezeiung meiner Mutter („bald wirst du eine Bibliothek eröffnen können“) hat sich zwar nie ganz bewahrheitet, aber immer fast. Jahr für Jahr wünschte ich mir noch mehr Bücher und seit ich eine eigene Wohnung habe, musste ich fast jedes Jahr ein weiteres Regal anbauen.

meine Wohnzimmerwand heute
meine Wohnzimmerwand heute

Irgendann war mir das auch nicht mehr genug…

Der Grund, weshalb ich überhaupt von meiner Buchstabensucht berichte, liegt in einer Meldung des Thienemann-Verlags, die mich heute Morgen erreicht hat und mir die Tränen in die Augen hat steigen lassen: Otfried Preussler ist tot.

Otfried Preussler wurde fast neunzig Jahre alt und hat zehntausende von Kindern mit seinen Geschichten und Büchern verzaubert. Ich war eines davon. Vielen Dank dafür!

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