„Wo die Geister tanzen“ von Joana Osman (Roman) plzm„Wo die Geister tanzen“ von Joana Osman (Roman) 87163e4508de4b628ee924acb802789f

Als nach dem Überfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 auf mehrere israelische Dörfer und das Nova Musikfestival der Krieg im Gazastreifen erneut aufbrandete, musste ich an die deutsch-palästinensische Autorin Joana Osman denken, deren Buch «Am Boden des Himmels» ich vor vier Jahren mit grosser Begeisterung gelesen hatte.

Joana Osman ist nicht nur Autorin, sondern sie engagiert sich auch in der Friedensbewegung im Nahen Osten, unter anderem in der Peace Factory. Ich fragte mich, wie es ihr wohl seit Anfang Oktober ergangen ist und ging auf ihre Webseite, wo ich feststellte, dass gerade im August 2023 ein neues Buch erschienen ist: «Wo die Geister tanzen», im Bertelsmann Verlag.

Der Inhalt

Joana Osman erzählt in diesem zum Teil authentischen, zum Teil fiktiven Roman die Geschichte ihrer Familie, die am Ende auch ihre eigene Geschichte ist.

Zufällig findet Joanas Cousine Seynep die Tagebücher ihres Vaters und ihrer Onkel. Joana fängt an, ihre Familiengeschichte zu recherchieren. Anhand der Erzählungen ihrer beiden noch lebenden Onkel besucht sie die verschiedenen Orte, an dem die Familie seit 1948 gelebt hat und spricht mit verschiedenen Menschen, um die Lücken zu füllen, welche in den Tagebüchern offen geblieben waren.

Die Handlung des Romans überspannt 70 Jahre, ist aber schnell erzählt: Es ist das entbehrungsreiche Leben und Sterben von Sabiha und Ahmed, Joanas Grosseltern, und ihren Söhnen Mahmud, Ibrahim, Ismael, dem Baby Mohammad (das direkt nach der Geburt gestorben ist), Mohammad (Joanas Vater), Youssef und Rashid.

Wir erfahren, wie Sabiha und Ahmed in Jaffa (dem heutigen Tel Aviv) ein Kino eröffnen, und wie sie in enger Nachbarschaft mit Menschen aus aller Welt leben: Juden, Araber, Christen, mit denen sie die Armut und Ungebildetheit teilen. Nach der Staatsgründung Israels 1948 fliehen sie nach Beirut, dort warten jedoch nur Armut und Elend auf sie.

Deshalb ziehen sie von Beirut aus nach Mersin, der türkischen Stadt, aus der Ahmeds Familie ursprünglich stammt. Von dort aus zurück nach Beirut, wo sie an verschiedenen Orten leben. Der Sechstagekrieg und der Bürgerkrieg im Libanon. Alle paar Jahre wieder ein Baby mehr. Irgendwann zieht die Familie ins Beiruter Quartier Ashrafieh, wo nochmal zwei Jungen, Youssef und Rashid, zur Welt kommen. Krieg, Armut und wieder Krieg.

Mittendrin der Junge Mohammad, der später Joanas Vater sein wird, und der mit aller Kraft versucht, der Armut und der Perspektivenlosigkeit der palästinensischen Jugendlichen im Libanon zu entkommen: er lernt, Radios zu reparieren und kann damit etwas Geld verdienen. Ein wohlwollender Lehrer an der UN-Flüchtlingsschule gibt dem intelligenten Buben Deutschbücher, so dass er die Sprache lernen und sich für ein Stipendium in Deutschland bewerben kann. Seine Geschichte endet damit, dass er in ein Flugzeug steigt und in eine bessere Zukunft fliegt.

Der Roman wird nicht so geradlinig erzählt, wie ich ihn hier zusammengefasst habe. Immer wieder flicht Joana Osman auch ihre eigene Suche nach der Vergangenheit ihrer Familie ein: in Tel Aviv, in Beirut, in der Türkei spricht sie mit Menschen, dann telefoniert sie wieder mit Verwandten oder Freunden, und erfährt dabei Neues. Gegen Ende des Buches wird die Erzählung immer persönlicher, denn Joana ist selbst auch Teil dieser Geschichte.

Mein Fazit

Der Roman «Wo die Geister tanzen» ist meisterlich komponiert: Die Erzählungen über die Vergangenheit von Joana Osmans Familie und ihre eigene Entdeckungsreise zu ihren Wurzeln greifen ineinander über, organisiert nach historischen Ereignissen und Schauplätzen.

Wo nötig, lässt die Autorin auch ihr Wissen über geschichtliche und politische Zusammenhänge mit einfliessen, welche die Handlung des Romans verständlicher machen. Sie tut das so unaufdringlich und geschickt, dass man am Ende die Familiengeschichte als Metapher für die Weltgeschichte versteht, und umgekehrt. Man sieht nicht nur das Grosse im Kleinen, sondern auch das Kleine im Grossen und Joana Osmans unvergleichlicher, trockener Erzählstil verbindet beides in klaren Bildern. Hier zum Beispiel über das Jahr 1948 und den israelischen Unabhängigkeitskrieg:

«Dieses Jahr werden keine Oliven geerntet, denn es herrscht Krieg».

Damit ist alles gesagt. So präzise bringt Osman die komplexe Lage immer und immer wieder auf den Punkt und illustriert sie mit persönlichen Anekdoten, zum Beispiel über ihre Grosseltern:

«Es ist nicht überliefert, dass sich einer von ihnen jemals hingesetzt und den Kindern eine Geschichte erzählt hat. Dazu war keine Zeit. Man war damit beschäftigt, zu überleben».

Was ich Joana Osman hoch anrechne, ist dass sie es fertigbringt, gleichzeitig für ihre palästinensische Familie und Verwandten Partei zu ergreifen, als auch historische Ereignisse empathisch und objektiv wiederzugeben.

Sie präsentiert keine Lösung für den Nahostkonflikt, und auch keine Schuldigen. Mit „Wo die Geister tanzen“ schafft sie den Drahtseilakt, die palästinensische Seite und das Leiden der Menschen zu vermitteln, ohne in Vorwürfen gegen Israel oder Hass auf die Juden zu verfallen.

Wie «Wo die Geister tanzen» nach dem Pogrom vom 7. Oktober 2023 auf mich wirkt

Ich kannte die Geschichte Israels und die Ursprünge des Nahostkonfliktes vom Studium her recht gut. Was ich bisher über die Palästinenser und Lebensumstände gelesen hatte, kam meistens entweder in politologischen oder historischen Büchern vor und blieb deshalb auf einer übergeordneten Ebene, oder es handelte sich um Propagandamaterial von Aktivistengruppen, das meistens mehr gegen Israel hetzt als zu versuchen, die Lage der Palästinenserinnen und Palästinenser zu verbessern.

Deshalb bin ich Joana Osman dafür dankbar, dass sie mit ihrem sehr persönlichen Einblick auch (für mich) neues Wissen vermittelt: Es war mir zum Beispiel nicht bekannt, dass palästinensische Flüchtlinge auch in der dritten oder vierten Generation in Israels Nachbarstaaten keine normalen Schulen besuchen dürfen, bestimmte Berufe nicht ausüben dürfen und sie auch keine Aussicht darauf haben, jemals die Staatsbürgerschaft des Landes zu erhalten, in dem sie und ihre Familien die letzten 70 Jahre verbracht haben.

Da läuft in der Tat sehr viel schief, denn eines ist klar: ohne eine Perspektive und eine Zukunft, ohne die Möglichkeit, es aus eigener Kraft zu etwas zu bringen, sind die jungen Menschen in diesen Lagern ein gefundenes Fressen für Fanatiker aller Couleur!

Bei aller Trauer für ihre Familie, und bei aller Hilflosigkeit gegenüber dem Konflikt, lässt Joana Osman ihre Leserinnen und Leser am Ende nicht im Regen stehen, sondern endet auf einer versöhnlichen Note:

«Zwei Jahre nachdem ich Israel aus der Ferne durch Stacheldraht betrachtet hatte, bin ich zu Besuch bei meinen neuen israelischen Freunden, Menschen, die ich bisher nur vom Bildschirm meines Laptops kannte. Wir erzählen uns die Geschichten unserer Familien. Es sind alles Geschichten von Flucht. […] Wir vergleichen nicht das Leid unserer Ahnen, denken nicht darüber nach, wer mehr Kummer in seinem Familienstammbaum angehäuft hat. […] Da sitzen wir jetzt, und du bist, was du bist, und ich bin, was ich bin. Und all das spielt überhaupt keine Rolle.»

„Wo die Geister tanzen“ von Joana Osman
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Steckbrief

„Wo die Geister tanzen“ von Joana Osman

„Sabiha und Ahmed sind fest verwurzelt in ihrer Heimatstadt Jaffa. Hier eröffnen sie ein eigenes Kino, um in der letzten Reihe bei Filmen mit Shirley Temple zu weinen, und ziehen ihre Söhne groß. Doch 1948, mit dem ersten arabisch-israelischen Krieg und schließlich der Gründung Israels, beginnt für die Familie eine Odyssee. Sie fliehen in den Libanon und weiter in die Türkei, stets auf der Suche nach einem neuen Zuhause. Sie leben in Abbruchhäusern und werden von keinem Staat anerkannt. Sie trauern um die Verstorbenen und verlieren doch nie die Lust am Leben und erst recht nicht ihren Humor.

Siebzig Jahre später begibt sich Joana Osman in Israel auf Spurensuche. Wer waren ihre Großeltern, die ihren Vater auf der Flucht großzogen? Was war das für eine Reise, die auch ihr eigenes Aufwachsen so stark und doch so unsichtbar geprägt hat.

Fiktion und Autofiktion verschwimmen in diesem Roman, in dem Joana Osman ihre eigene Familiengeschichte vor dem Vergessen rettet. Voller Fantasie und hinreißendem Witz lässt sie die Geister der Vergangenheit tanzen.“

„Wo die Geister tanzen“
von Joana Osman
C. Bertelsmann Verlag, Verlagsgruppe Randomhouse, 2023
ISBN 978-3-570-10522-1

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Bezugsquellen

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