Eine verwickelte Geschichte mit vielen Missverständnissen, Lügen und Intrigen und so sturen Protagonistinnen, dass man sie am liebsten schütteln würde. Das ist «Charlotte Löwensköld», der zweite Band aus der Trilogie «Die Löwenskölds» der Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf aus dem Jahr 1925.

Die Autorin Selma Lagerlöf

Selma Lagerlöf lebte von 1858 – 1940 in Schweden, die meiste Zeit davon auf dem Gut Mårbacka, wo sie aufgewachsen war und das sie später mit dem Geld ihres Nobelpreises zurückkaufen konnte. Lagerlöf arbeitete zuerst noch als Lehrerin. Ihre ersten beiden Romane waren Bestseller, und ab 1895 konnte sie vom Schreiben leben. Um die Jahrhundertwende herum fragte sie die Schwedische Schulbehörden, ob sie ein Erdkundebuch für die Schwedischen Schulen schreiben möchte. Es entstand das Kinderbuch «Wunderbare Reise des Nils Holgersson durch Schweden», neben «Gösta Berling» ihr international erfolgreichstes Werk.

Selma Lagerlöf, Fotografie von 1909
Selma Lagerlöf, Fotografie von 1909

1909 gewann sie den Literatur-Nobelpreis für „Die Einfachheit und Reinheit, die Schönheit des Stils und die Kraft der Einbildung», die sich «völlig mit einem weiteren bemerkenswerten Zug ihres poetischen Genies: mit der moralischen Kraft und innerstem religiösen Gefühl durchdringen».

Selma Lagerlöf blieb zeitlebens unverheiratet. Erst die Öffnung ihres Nachlasses 50 Jahre nach ihrem Tod liess die Bombe platzen: sie hatte insgeheim langjährige lesbische Beziehungen zu zwei Frauen gleichzeitig gepflegt, Sophie Elkan und Valborg Olander. Die «Liebe, deren Name nicht gesagt werden darf» hielt 38 bzw. 27 Jahre lang, und Tausende von Briefen zwischen den drei Frauen bezeugten dieses Geheimnis, das Lagerlöf mit sich ins Grab nahm.

Selma Lagerlöfs Romane und Essays sind im schwedischen Alltagsleben ihrer Zeit verwurzelt, aber auch in den Sagen und Legenden ihrer Heimat Värmland.

Die Geschichte von Charlotte Löwensköld

Im ersten Teil «Die Oberstin» lernen wie die Oberstin Beate Ekendstedt kennen, eine stolze, ich-bezogene Frau, nach der sich alle richten. Alle, ausser ihrem hochmütigen, verzärtelten Sohn, der statt ein berühmter Professor oder Gelehrter zu werden, wie sie es für ihn geplant hatte, sich lieber in religiöser Askese übte. Sie denkt, dass seine religiöse Schwärmerei nur eine vorübergehende Phase war und passt sich vordergründig seinen Wünsche an. Lagerlöf beschreibt detailliert die Konflikte, in die sie deswegen kommt, zum Beispiel als sie eine Hochzeit ausrichtet und Karl-Artur nicht möchte, dass dabei getanzt wird, die Oberstin jedoch «einen guten Ruf als beste Gastgeberin weit und breit zu bewahren hatte».

Zeitsprung, fünf Jahre später. Karl-Artur ist jetzt Hilfspfarrer in der Probstei Korskyra.

«Der Hilfspfarrer war gertenschlank und so fromm, dass er weder zu essen noch zu trinken wagte. Er war den lieben langen Tag mit Amtsgeschäften beschäftigt und lag nachts vor seinem Bett auf den Knien und beweinte seine Sünden. Er war kurz davor, sich ganz zu verlieren, aber Charlotte Löwensköld hinderte ihn daran, sich völlig zugrunde zu richten.»

Mit diesen Sätzen wird endlich die Titelheldin des Romans eingeführt. Die junge Frau lebt als Gesellschafterin im Hause des Propstes und der Pröpstin von Korskyra. Sie ist «flink und heiter und offenherzig» und ihre «hervorstechendste Eigenschaft war ihre ungewöhnliche Fähigkeit, Dinge für andere zu regeln und zu organisieren». Charlotte ist ein gutes, intelligentes Mädchen, das «ihr Herz auf der Zunge trägt» – nicht immer zu ihrem Vorteil!

Als Charlotte die wohlhabenden Eltern ihres Verlobten kennenlernt, stellt sie fest, dass diese gar nicht glücklich darüber sind, dass ihr einziger Sohn ein Hilfspfarrer ohne jeden Ehrgeiz geworden ist. Also nimmt Charlotte die Sache in die Hand. Sie überzeugt Karl-Artur, seinen Magister nachzuholen und zu promovieren und stellt sich vor, dass er später zum Beispiel Lehrer am Gymnasium werden können, «und daraufhin so viel verdienen würde, dass ihrer Heirat nichts mehr im Wege stünde. Wenn er unbedingt Pfarrer werden wollte, konnte er ein paar Jahres später die Beförderung zu einem grossen Pastorat erhalten, wie es üblich war.» Leider macht Charlotte hier die Rechnung ohne den Wirt. Karl-Artur kehrt nach Korskyrka zurück und «obwohl er Doktor der Philosophie war, verdiente er weniger als ein Stallknecht».

Im Moment, wo der Roman richtig Fahrt aufnimmt, sind Charlotte und Karl-Artur seit 5 Jahren verlobt aber können noch nicht heiraten. Karl-Artur verdient zu wenig, um eine Familie zu ernähren und hat sich bisher Charlottes Versuchen, ihn in eine «lukrativere» Richtung zu drängen, erfolgreich widersetzt. So sagt sie denn eines Tages im Scherz gemeint: «Karl-Artur, ich habe dich wirklich gern, aber wenn Schagerström um meine Hand anhält, dann nehme ich ihn».

Dieser Scherz in lustiger Gesellschaft führt zu einer langen Verkettung von eifersuchtsgetriebenen Missverständnissen, Irrungen und Verwirrungen. Schagerström hört davon, dieser schaut sich die junge Frau an und macht ihr einen Antrag. Charlotte lehnt diesen empört ab. Thea Sundler, die zwar verheiratet ist, aber heimlich für Karl-Artur schwärmt, trägt diesem zu, dass Charlotte gegen ihn intrigiere. In seiner Wut beschliesst er, «auf Gott zu hören» und die erste Frau zu heiraten, die ihm über den Weg läuft. Prompt macht er der Hausiererin Anna Svärd einen Antrag und löst seine Verlobung mit Charlotte.

Hier sind wir etwa erst bei einem Viertel des Romans. Alle Personen und ihre jeweiligen Motive sind eingeführt, über viele Seiten hinweg meisterlich beschrieben durch die Königin der Charakterdarstellung, Selma Lagerlöf. In den restlichen drei Vierteln des Romans führt uns die Autorin durch ein immer wieder überraschendes Verwirrspiel mit Missverständnissen, Lügen, Intrigen, Stolz, Sturheit und dem Versuch, alles so zu richten, dass es für die jungen Leute am Ende doch noch gut enden könnte. Bis schliesslich alle das bekommen heben, was sie verdienen, müssen sie noch lange leiden.

Mein Fazit

«Charlotte Löwensköld» braucht ein wenig Anlaufzeit. Heute wird in «kreativ Schreiben»-Kursen gelehrt, dass die Action spätestens im zweiten Absatz losgehen sollte, damit sich die Leserinnen und Leser nicht gleich verabschieden. Obwohl es hier fast hundert Seiten dauert, bis die Geschichte Fahrt aufgenommen hat, ist Lagerlöf ein Roman von Weltklasse gelungen, der auch ein jüngeres Publikum zu begeistern vermag. Lagerlöf ist die Grossmeisterin der Charakterdarstellung mithilfe von „show, don’t tell“. Sie erzählt einfach die eine oder andere Anekdote über eine Person und man weiss genau, mit wem man es zu tun hat.

«Charlotte Löwensköld» ist so präzise und eloquent geschrieben, so dicht komponiert, dass einem nach seiner Lektüre jedes andere Buch erst einmal flach und einfach gestrickt vorkommt. Die Neuübersetzung von Paul Berf für den Manesse Verlag enthält zudem zahlreiche Fussnoten mit Erklärungen und Zusatzinformationen, die den Leserinnen und Lesern helfen, die Charaktere, ihr Handeln und ihre Zeit besser zu verstehen.

Die Manesse-Ausgabe (an dieser Stelle einen herzlichen Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar) enthält zudem eine 20-seitige Kurzbiografie Selma Lagerlöfs, geschrieben von Mareike Fallwickl sowie Erklärungen und Einordnungen der Beziehungen in dem Roman, die aus heutiger Sicht nicht immer Sinn ergeben.

«Charlotte Löwensköld» aus der Manesse Bibliothek ist ein hochwertiges Hardcover in kleinem Format, das gut in der Hand oder Handtasche liegt, trotz der kleinen Schrift angenehm zu lesen, liegt gut in der Hand, riecht fein und ist mit dem Leinenbändchen, der Fadenheftung und dem bedruckten Vorsatz richtig schön gestaltet. So schön, dass ich jetzt auch die anderen Bände aus der Reihe «Klassikerinnen bei Manesse» haben muss!

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Steckbrief

Selma Lagerlöf: „Charlotte Löwensköld“

„Die junge Charlotte Löwensköld ist glücklich. Seit fünf Jahren ist sie dem Hilfspfarrer Karl-Artur Ekenstedt versprochen, und nicht im Entferntesten würde sie daran denken, diese Verbindung zu lösen. Auch nicht, als der reiche Bergwerksdirektor Schagerström eines Tages um ihre Hand anhält. Charlotte lehnt den Heiratsantrag entschieden ab, doch der mittellose und asketisch lebende Karl-Artur steigert sich zunehmend in seine Eifersucht hinein. Während Charlotte versucht, sich mit ihm auszusöhnen, beginnt sie immer verzweifelter, um ihr eigenes Glück zu kämpfen …
Mit Charlotte Löwensköld schuf die Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf ein modernes Meisterwerk, das ein von der Kirche erschaffenes Frauenbild entlarvt, welches die bedingungslose Aufopferung gegenüber dem Mann verlangt.“

„Charlotte Löwensköld“
von Selma Lagerlöf, übersetzt von Paul Berf, mit einem Nachwort von Mareike Fallwickl (der Autorin von „Das Licht ist hier viel heller“ u.a.)
Manesse Verlag, Randomhouse Verlagsgruppe, Oktober 2022
ISBN 978-3-7175-2534-9
Hier gibt es eine ausführliche Leseprobe.

Selma Lagerlöf: „Charlotte Löwensköld“
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Selma Lagerlöf: „Charlotte Löwensköld“

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Noch ein Hinweis: es gibt zahlreiche andere Ausgaben, Taschenbücher, E-Books usw. von „Charlotte Löwensköld“. Ich möchte hier jedoch ausdrücklich auf die Manesse-Ausgabe in der Neuübersetzung von Paul Barf verweisen.

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