Ein Sturm tobte durch die Elternseiten und -foren im Internet, als am 24. Juni 2013 die statistische Untersuchung des britischen Forschungsteams rund um Sacker, Kelly, Iacovou et al. „Breast feeding and intergenerational social mobility: What are the mechanisms?“ veröffentlicht wurde. Die Forschenden fanden einen statistischen Zusammenhang zwischen Stillen in den ersten vier Lebenswochen und späterem sozialen Aufstieg. Sie begründen diesen Zusammenhang mit dem bereits bekannten Zusammenhang von Stillen und kognitiver sowie sozio-emotionaler Entwicklung.
Je Gestillt, desto Karriere?
„Stillen fördert den sozialen Auftsieg des Kindes“ und ähnlich tönte es plötzlich von allen Seiten.1 Offenbar waren da einige froh um einen Füller des Sommerloches, denn man kann ja nicht wochenlang über Hochwasser und Protestveranstaltungen berichten.
Je mehr ich aber in der Presse darüber las, desto mehr bekam ich den Eindruck, dass wer nur kurz, nur zum Teil oder überhaupt nicht stillt, seinem Kind schon vom ersten Lebenstag an die Karriere versaut.
Aus langer, leidiger Erfahrung heraus weiss ich, dass es in der heutigen Presselandschaft wichtiger ist, eine Meldung schnell raus zu bringen, als sie nochmal auf ihre Korrektheit nachzuprüfen. Deshalb war ich natürlich neugierig, was die WissenschaftlerInnen tatsächlich geschrieben hatten und ich nahm mir den Originaltext vor.
Das Datenmaterial: Die British Cohort Studies
Verwendet wurden Daten aus zwei von vier der sog. British Cohort Studies. Dabei handelt es sich um mehrere Längsschnittstudien, in denen alle Personen, die innerhalb einer Woche eines Jahres in Grossbritannien geboren wurden, alle paar Jahre zu bestimmten medizinischen, sozialen und wirtschaftlichen Fragen interviewt wurden.
Die hier verwendeten Daten stammen aus der „National Child Development Study“ (NCDS) mit 17’419 Personen mit Geburtsjahrgang 1958 und der „British Cohort Study“ (BCS70) mit 16’771 Personen von 1970.
Über die Jahre wurden Hunderte von Fragen zu allen möglichen Themen gestellt und Forschende aus aller Welt setzen die Antworten rechnerisch in Bezug zu einander. Wo immer eine statistische Beziehung (Korrelation) gefunden wird, schauen sie näher hin.
Die genauen Studiendesigns, Methoden, Untersuchungen, Fragebogen etc. können beim britischen Centre for Longitudinal Studies nachgelesen werden.
Die Fragen zum Stillen wurden der Mutter gestellt, als die Kinder bereits 5 Jahre (NCDS 1958) bzw. 7 Jahre alt waren (BCS70). Es wurde gefragt, ob das Kind mit der Flasche gefüttert, weniger als 4 Wochen oder mehr als 4 Wochen gestillt wurde.
Die Fragen zur Sozialen Schicht2 des Vaters3 wurden gestellt, als die Individuen 11 (NCDS 1958) bzw. 10 Jahre alt waren (BCS70). Mit 33 (NCDS 1958) bzw. 34 Jahren (BCS70) wurden die Individuen zu ihrer eigenen Schichtzugehörigkeit befragt.
Verwendet wurde dafür die in der britischen Sozialforschung übliche Skala4. Der Einfachheit halber hat man die üblichen sechs Klassen auf vier reduziert. Bei der Angabe zur eigenen Schichtzugehörigkeit als Erwachsene wurden die Männer als Referenzkategorie genommen.
Die Kognition (die „Denkfähigkeit“, also die Art und Weise, wie ein Mensch Informationen verarbeitet, daraus Erkenntnisse und Wissen gewinnt) wurde erstmals mit 11 (NCDS 1958) bzw. 10 Jahren (BCS70) gemessen. Dazu verwendete man den standardisierten National Foundation for Educational Research General Ability Test für die 1958 geborenen Personen und vier Tests (2 verbale und zwei mathematische) aus der British Ability Scales für die Personen mit Jahrgang 1970.
Die emotionale Belastbarkeit / Stress mit 11 bzw. 10 Jahren wurde bei den Müttern und Lehrpersonen abgefragt, bzw. durch sie anhand einer vorgegebenen Skala5 abgeschätzt und nicht objektiv gemessen.
Statistische Analyse
Gut 2/3 der Kinder von 1958 wurden gestillt, im Vergleich dazu gut 1/3 der 1970 geborenen Kinder. Für die Kinder mit Jahrgang 1970 war ein sozialer Aufstieg wahrscheinlicher, als für die 1958 geborenen Kinder. Zwischen den beiden Geburtsjahrgängen gab es grundlegende Umwälzungen und Reformen im Bildungswesen und der Erziehung.
Die gesellschaftlichen, bildungspolitischen und pädagogischen Veränderungen nach 1968 wurden in der vorliegenden Studie nicht berücksichtigt.
Rein rechnerisch war für die gestillten Kinder aus beiden Jahrgängen ein sozialer Aufstieg ein klein wenig wahrscheinlicher, als für ungestillte Kinder. Auch der umgekehrte Fall trifft zu: Ein sozialer Abstieg war für gestillte Kinder leicht weniger wahrscheinlich, als für ungestillte Kinder.
Es gibt also tatsächlich eine Verbindung zwischen dem Gestillt-Werden in den ersten vier Lebenswochen und dem sozialen Aufstieg/Abstieg im Vergleich zum Vater.
Ist wirklich das Stillen die Ursache für den sozialen Aufstieg (kausaler Zusammenhang) oder gibt es Faktoren, die sowohl beim Stillen als auch beim sozialen Aufstieg eine Rolle spielen?
Und bei dieser Frage sehen die Forschenden um Sacker, Kelly, Iacovou et al. – im Gegensatz zu den Journalist/innen, die bisher Artikel über diese Studie geschrieben haben – ganz viele Fragezeichen.
Ihre (vorsichtig formulierte) These aufgrund der gefundenen Zusammenhänge und aufgrund vorheriger Forschungsergebnisse lautet:
Gestillte Kinder entwickeln im Vergleich mit ungestillten Kindern eine leicht verbesserte Kognitionsfähigkeit und leicht verbesserte sozio-emotionale Kompetenzen6 (die helfen, besser mit Stress und Druck umzugehen). Diese beiden Faktoren wiederum begünstigen den sozialen Aufstieg.
Tatsächlich: Da ist was
Aber was es genau ist, kann bisher niemand genau sagen und auch diese Studie gibt keine abschliessende Antwort. Es könnte etwas in der Milch sein, das das Wachstum von Synapsen fördert, es könnte auch die Nähe sein, das Bonding, der Erziehungsstil, oder die Tatsache, dass ungestillte Kinder tendenziell eher einem Stress ausgesetzt sind, den gestillte Kinder nicht kennen… alles unklar.
Um den genauen Einfluss des Gestillt-Werdens auf Karriere und Lebenszufriedenheit des Kindes zu ermitteln, müsste eine gross angelegte Langzeitstudie zuerst mal das Stillen selbst untersuchen und detaillierte Protokolle zur Ernährung anlegen (zeitnah, nicht Jahre später aus der Erinnerung):
- trinkt der Säugling Muttermilch oder Flaschenmilch und wenn Letzteres, welche Produkte (Zusammensetzung)
- wird der Säugling ausschliesslich gestillt oder teils-teils und zu welchen Teilen
- wie oft, zu welchen Tageszeiten nimmt der Säugling welche Mengen Milch zu sich
- und auf welche Weise nimmt der Säugling die Milch zu sich (ab Brust oder ab Flasche, oder mit Brusternährungsset)
Weitere Punkte wären wo, an welchem Ort, in welcher Umgebung wird gestillt und über welche Zeitdauer (4 Wochen, Monate, Jahre?)
Hinzu käme der Erziehungsstil und das Bindungsverhalten und andere anwesenden oder abwesenden möglichen Einflussfaktoren oder Mediatoren.
Zu all diesen Punkten – und noch weiteren – müsste man Antworten haben, um mehr über einen möglichen kausalen Zusammenhang zwischen Stillen und späterem Lebenserfolg sagen zu können.
Bis dahin sind nur zwei Dinge sicher:
- Es gibt da irgendwo eine Verbindung zwischen Stillen im Säuglingsalter und späterer körperlicher und geistiger Gesundheit und Wohlbefinden im Erwachsenenalter – nur welche das sein könnte, ist unklar
- Die Schlussfolgerungen, dass Stillen allein zu sozialem Aufstieg, besseren Karrierechancen, mehr Erfolgschancen, höherem Status, beruflichem Erfolg, Schlauheit, und Wohlbefinden führe7, sind unbelegter Humbug!
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Fussnoten:
1 Das Blog „Stillen in Graz“ hat freundlicherweise eine Liste der Titel zusammengestellt, die sich auf die Studie beziehen: „Rascheln im Blätterwald wegen Studie aus UK“
2 Die Studie verwendet den Begriff „Klasse“, der jeder in der deutschsprachigen Soziologie mehr oder weniger den marxistischen Theorien vorbehalten ist. Aus diesem Grund verwende ich in diesem Artikel den Begriff „Soziale Schicht“. Zu den Theorien der sozialen Schichtung, siehe bitte den entsprechenden Artikel in der Wikipedia: .Sozialstruktur: Schicht als Leitbegriff
3 Hier wird davon ausgegangen, dass der Beruf des Vaters bestimmend für die Schichtzugehörigkeit der gesamten Familie ist, was in den meisten Fällen wohl tatsächlich auch so ist.
4 Der in GB verwendeten Klassenbegriff und wie die Individuen einer Schicht zugeordnet werden, wird hier erklärt: Official Social Classifications in the UK
5 Rutter A und Rutter B Skala
6 Natürlich nicht alle und nicht immer, es sind nur Wahrscheinlichkeitsrechnungen, die keine Voraussage für ein bestimmtes Individuum erlauben.
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Oh je…ich habe den Titel ganz falsch verstanden…. Ich dachte: je höher der Bildungsabschluss/ Karriere der Mutter, desto eher / länger stillt sie….huch ! 😉
Diese Frage wäre auch eine Untersuchung wert.
Wie hoch ist denn die Korrelation in Zahlen?
Die Zahlen findest Du im Originaltext. Auf Seite 3 ist die Tabelle, auf Seite 4 noch detaillierter.
https://adc.bmj.com/content/early/2013/04/24/archdischild-2012-303199.full.pdf+html
Wow, danke für die Mühe, die Du Dir gemacht hast! Ich habe mich bei den Schlagzeilen gefragt, ob wir denn wirklich noch ein wie auch immer geartetes Papier bräuchten, das den Müttern zeigt, was für ausgesprochen schlechte/ egoistische/ fahrlässige Mütter sie sind, wenn sie nicht stillen. In meinem Bekanntenkreis haben mehrere Frauen gar nicht oder nur ganz kurz stillen können, und für die war/ ist das sehr schlimm. Diese Art Pauschalaussagen machen es dann oft noch schlimmer. Toll, dass Du mal dahinter geschaut hast und die Zahlen in eine etwas relativierte Beziehung setzt – ich weià jetzt schon, dass ich diesen Blogpost mehrfach empfehlen werde;)
Der Umkehrschluss ist NIE richtig! Wenn es immer wieder heisst, dass Stillen das Optimum ist, bedeutet das in keinem Fall, dass nicht-Stillen schlecht ist! Sondern einfach die zweitbeste Lösung. Und die ist hier in unseren Breitengraben immer noch verdammt gut. Lasst Euch bitte nichts anderes einreden.
Ich habe den Eindruck, dass ständig neue Studien erscheinen, die mal dies und mal das empfehlen und was heute richtig ist, kann morgen schon wieder ganz falsch sein und umgekehrt. Dass Stillen zu sozialer Bindung führt und dies möglicherweise emotionale Intelligenz begünstigt ist sicher nicht von der Hand zu weisen. Aber mehr eben auch nicht. Dein Fazit ist da ja auch sehr deutlich. Bis zum Erwachsenenalter gibt es so viele Einflüsse und Faktoren die das Individuum beeinflussen, dass es mir fast unmöglich erscheint, überhaupt einen Rückschluss auf das Stillen zu finden.
Da spielt so viel mit rein, dass man am Ende gar nicht mehr sagen kann, was den Ausschlag gab. Und sogar wenn man es könnte, wäre es immer noch kein zwingender Schluss: Nicht alle gestillten Kinder werden später erfolgreicher als ihre Eltern und es gibt auch viele ungestillte Kinder, die erfolgreicher sind, als ihre Eltern.
Und zweitens ist es mit stillen allein noch lange nicht getan.